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Zeitzeugen

Erinnerungen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens und verbinden nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Menschen, Familien, Gemeinschaften.

 

Das 20. Jahrhundert hat für viele Menschen große Veränderungen mit sich gebracht. Für unsere Vorfahren, die bis Ende des 2. Weltkriegs in den zuletzt 8 deutschen Dörfern in der Wischauer Sprachinsel gelebt haben, war die Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat ein einschneidender und schmerzlicher Wendepunkt im Leben.

 

Die Erinnerung an das beschauliche Leben vor der Vertreibung, aber auch an die die schweren Zeiten während und nach dem Krieg haben die Erlebnisgeneration über all die Jahre begleitet. In persönlichen Gesprächen wurde oft davon erzählt und einige haben ihre Erinnerungen auch schriftlich festgehalten:

Schicksalsjahre 1945 / 1946 (Erich Bernard)

Schicksalsjahre der Deutschen 1945 und 1946 in der Wischauer Sprachinsel (heute Tschechische Republik)

Im letzten Kriegsjahr, es war 1945: Die deutsche Nazi-Diktatur war fast vernichtet. Einige glaubten noch an eine Wunderwaffe und an einen Deutschen Sieg. Der letzte Fachlehrer an der Bürgerschule in Wischau, Herr Bögershausen, wurde zum Kriegseinsatz eingezogen. Wir hatten nur noch einen alten Direktor, eine Lehrerin und noch junge, noch nicht fertig ausgebildete Lehrerinnen. Herr Bögershausen war auch Jäger und hatte mehrere Waffen. Er sagte zu mir: „Du musst meine Waffen pflegen, mit Herrn Direktor habe ich schon gesprochen. Er wird Dir jede Woche oder jede zweite Woche eine Stunde vom Unterricht frei geben. Du weißt ja Bescheid, Dein Vater hat ja auch Waffen zuhause.“  Für die Pflege bekam ich ein Luftgewehr zur freien Verfügung und den Schlüssel zum Waffenraum. Herrn Bögershausen habe ich nie wieder gesehen.

 

Auch wir vom Jungvolk und der Hitlerjugend wurden von den Jungschar-, Jungzug- und Fähnleinführern für den Fronteinsatz gedrillt. Wenn man auch noch zusätzlich Ministrant war, der am Sonntagvormittag in der Kirche war und deshalb nicht zum Dienst erscheinen konnte, bekam man einen Eintrag und wurde mit noch mehr Schliff bestraft. Wir waren drei Bauernbuben im Alter von 12 ½, 13 ½ und 15 Jahren und beschlossen diese Eintragungen zu vernichten. Es war sogar der Sohn vom Bürgermeister dabei. Wir nahmen zwei Äste und brachen damit die Tür zum Gerätehaus beim Sportplatz (Tramòk) auf und vernichteten alles was drin war. Die tschechische Gendarmerie verfolgte diesen Vorfall nur mit mäßigem Interesse. Meine beiden Freunde, die damals dabei waren, sind bereits gestorben. Ab jetzt erst, wissen es die Gundrumer, was vor 66 Jahren da passierte.

 

Eines Tages kam ein Parteibonze aus Wischau und verlangte vor der Gemeindeversammlung im Gasthaus die Flucht vor der Roten Armee. Die Fluchtwagen mit Plane waren schon laut Anordnung hergerichtet. Bei der Diskussion haben sich erst einige und dann die Mehrheit für das Verbleiben entschieden. Einige Familien, die mit ihren Töchtern flüchteten, wurden von Milizen abgefangen und kamen gleich ins Arbeitslager.

 

An einem Spätnachmittag ging ich in die Scheuer und hörte ein Rascheln im Stroh und bekam es mit der Angst zu tun. Ich habe gleich den Vater gerufen. Er stieg die Leiter zum Strohboden hinauf und fand einen fahnenflüchtigen rumänischen Soldaten. Der Soldat verstand etwas Deutsch. So hat ihm mein Vater zu verstehen gegeben, dass er nachts wieder weiter muß. Denn wenn er bei uns entdeckt wird, werden meine Vater und der Soldat gemeinsam erschossen. Der Rumäne wurde von meinem Vater nicht gemeldet und durfte fliehen.

 

Mein Vater hatte als Jäger zwei 16-er Flinten, eine belgische Pistole und einen Karabiner. Im Pferdestall wurde aus der Außenmauer eine Nische raus gemeißelt und die Flinten wurden zum Schutz vor Raub dort eingemauert. Auch am Schüttboden wurde ein Raum zugemauert. Darin haben wir vieles versteckt; unter anderem auch einen Motor von der Motosulm – ein ca. 1932 gebautes Moped. Ob der Raum je gefunden wurde? Die Front kam immer näher. Es war auch schon ein Volkssturm gegründet, bei der auch Jungen mit 15 Jahren dabei waren. Sie sollten mit den restlichen deutschen Soldaten die russischen Truppen aufhalten. Sie hatten eine „Pack“ und ein Pferd, das die kleine Kanone zog. Sie zogen sie Richtung Austerlitz – der Front entgegen. Ein Schulkamerad, der ein Jahr älter war als ich, kam mit einem Wadendurchschuss davon. Die anderen kamen zerstreut wieder nach Hause. Auch Fliegerangriffe der Amerikaner und Russen haben viel Unheil angerichtet.

 

Den Luftangriff auf Brünn habe ich von weitem mit meinem Großvater erlebt. Wir gingen um ca. 06.00 Uhr zum Grasmähen, hörten ein Brummen und schauten zum Himmel. Hier sahen wir silberglänzend im Sonnenlicht hunderte Flugzeuge, so groß wie eine halbe Streichholzschachtel, Richtung Brünn fliegen. Mein Großvater sagte sogleich: „Wir müssen uns auf den Boden legen, es fliegen gleich die Schrapnell (Splitter)“. Großvater wurde im ersten Weltkrieg von Splittern getroffen und sah deswegen auf dem linken Auge nur noch wenig. Brünn war von Gundrum ca. 23 km entfernt. Es dauerte nur wenige Minuten bis in Brünn das Inferno der Zerstörung losbrach und vielen den Tod brachte.

 

Ein weiterer Angriff erfolgte durch russische Flieger auf eine Artilleriestellung der Deutschen, oben am Reiterberg – unser damaliger Berg zum Schlittenfahren. Die komplette Artilleriestellung wurde vernichtet.  Wir Buben haben alles vom Brünnel aus – von einem bewachsenen Hang – beobachtet, denn wir hatten keinen Schulunterricht. Am anderen Tag gingen wir Jungs zu der Artilleriestellung, da wir sehr neugierig waren. Wir fanden noch nicht explodiertes Pulver. Es waren Röhrchen von ca. 20 cm Länge. Wir wickelten mehrere Pulverstäbe in Papier, verschnürten es und zündeten es an einem Ende an. Wie hielten es in der Hand und ließen es wie Raketen fliegen. Es machte uns sehr viel Spaß und wir merkten nicht wie leichtsinnig und unvernünftig es war. Auch in Lultsch wurde ein Deutscher Munitionszug, der Nachschub für die kämpfenden Truppen bringen sollte, von Fliegern vernichtet. Die Detonationen hörte man kilometerweit.

 

Einen russischen Angriff auf Grundum erlebte ich so: Meine Mutter und ich waren im Hof, als wir Flugzeugmotorenlärm hörten.  Mutter sagte zu mir: „Komm schnell in den Keller!“  Ich erwiderte: „Aber das sind doch zwei deutsche ME 109!“  Erst als Gundrum mit MG`s beschossen wurde, merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte und lief schnell zum Keller. Beim Laufen hörte ich ein Pfeifen. Eine Bombe schlug vor dem Scheunentor unseres Nachbarn Knapek ein. Ich habe den Kellereingang gerade noch erreicht und war beim Abschlag der Bombe durch die Hauswand geschützt. In der Hauswand vor mir war noch ein Fenster, das durch die Detonation in den Vorraum des Kellers flog. Unsere Hoftrennmauer zum Nachbarn war ca. zwei Meter hoch und bewahrte uns vor noch mehr Schäden. Der Bombentrichter lag etwa 20 Meter von der Ausdinghaus-Wand entfernt. Wir hatten unbeschreibliches Glück. Vom Scheunentor war nicht mehr viel übrig und das Dach war abgedeckt. Es fielen auch Brandbomben, dabei brannte die Raiffeisenkasse vollständig aus. Auch Schäden an manchen Häusern waren zu beklagen. Es gab einen toten Gundrumer und etliche Verletzte. Auch einen Soldaten hat es erwischt. Wir hörten die Front näherkommen. Die Tischlergesellen von meinem Großvater waren nicht mehr da.  So konnten wir am späten Nachmittag von der zweistöckigen Werkstatt Richtung Austerlitz schauen und sahen die russischen Panzer anrollen.

 

Am 27. April 1945 – es wurde gerade Tag – klopfte es am Hoftor. Mein Vater ging zum Hoftor. Wir schauten vom Kellereingang mit Bangen zu, was wohl geschehen wird. Mein Vater öffnete das Tor und im gleichen Moment hielt ein russischer Soldat seinen aufgepanzerten Karabiner gegen meinen Vater. Seine ersten Worte waren: „Jest German!“ Mein Vater antwortete: „njet, njet – jest Tschechoslowak“. Der Russe wollte einen Spaten. Vater gab ihm unseren Spaten, aber er wollte einen Spaten mit kurzem Stil. Der Stil wurde abgesägt, der Soldat sagte: „drastiva“ (danke) und ging durch die Scheuer weiter.

 

Ab jetzt waren wir unter russischer Kontrolle. In unserm Haus Nr. 6 in unserer Stube hatten vier russische Offiziere einen Befehlsstand eingerichtet, der mit vielen Drähten und Kabeln bestückt wurde. Der Grund dafür war, dass die Russen bei Wischau am „Kosihorka“ (Ziegenberg) durch die Wehrmacht aufgehalten wurden. Dort waren ein großer Truppenübungsplatz und Fliegerhorst. Dort wurden Fahnenjunker (Offiziere) ausgebildet. Bei den russischen Offizieren war auch ein jüdischer Offizier dabei. Dieser wusste, dass wir Deutsche sind. Er war uns gegenüber sehr anständig, wie die anderen Offiziere auch. Wir hatten durch sie einen gewissen Schutz vor Übergriffen. Meine elfjährige Schwester Marie durfte laufend bei den Offizieren das Grammophon mit der Kurbel aufziehen. Im Ausdinghaus sind russische Soldaten eingebrochen. Meine Schwester lief gleich zu den Offizieren. Ein Offizier eilte mit meiner Schwester zum Ausdinghaus, zog die Pistole und vertrieb die Soldaten.

 

Die Rote Armee wurde bei Wischau über eine Woche lang aufgehalten. Bei diesen Kampfhandlungen wurde viel Nachschub von Kriegsmaterial gebraucht. Weil die Rote Armee in unserem Truppenabschnitt viele Panzer hatte und fast keine motorisierten Verbände, wurde in unserem Frontabschnitt der ganze Nachschub mit Pferdefuhrwerken bestritten. Für die verwundeten, mit Splitter verletzten Pferde wurden beim nächsten Bauern frische Pferde aus den Ställen geholt. In Gundrum waren fast keine gesunden Pferde mehr in den Ställen, nur noch verletzte, die von den Bauern eingefangen wurden. Man brauchte ja wieder Pferde, um die Felder bestellen zu können. Wir hatten drei verletzte Pferde. Zwei davon verendeten an den Schussverletzungen und wir begruben sie in den Schützengräben. Einen Wallach brachten wir durch. Doch dieser wurde dann doch noch von den russischen Soldaten beschlagnahmt. Zu guter Letzt wurde auch unser zweieinhalbjähriges Fohlen, das mir Vater schenkte, von einem Russen aus dem Stall geholt.

 

Die russischen Offiziere verließen sich nicht nur auf Fernsprechleitungen und Funk, sondern setzten auch Meldereiter ein.  Ein solcher Meldereiter, der meistens erst bei Dämmerung bei uns ankam, um den Offizieren zu berichten, war ein anständiger Mensch. Er versprach meinem Vater, ihm für das Unterstellen, Füttern und Putzen des Pferdes etwas zu geben. Nach dem letzten Aufenthalt gab er meinem Vater ein Paar russische Soldatenschuhe.

 

Wir Buben haben ein kleines unverletztes Pferd eingefangen. Dieses haben wir bei Greipel Josef Kutscherauer Haus Nr. 10 untergestellt. Da wir keinen Schulunterricht hatten, kamen uns so manche kuriose Gedanken. Meine Freunde und ich kamen auf die Idee, dieses Pferd zu reiten. Ohne Sattel, wie die Indianer, führten wir das Pferd zur Gänsewiese beim Brünnel. Jeder von uns wollte reiten und möglichst lange auf dem Pferd bleiben. Als ich an die Reihe kam, wollte oder konnte das Pferd nicht mehr vom vielen hin- und her rennen. Damit auch ich meinen Spaß auf dem Rücken des Pferdes haben konnte, gab ich dem Pferd die Peitsche.  Es schlug aus und verlor dabei ein Hufeisen. Der Spaß war also vorbei und das Pferd musste erst wieder beschlagen werden. Während das Pferd zum Josef in den Stall gebracht wurde, lief ich nach Hause und holte Hufnägel.  Jetzt hielt einer das Pferd am Halter und der andere hat auf seinem Knie den Fuß festgehalten. So nagelte ich das Hufeisen auf den Pferdefuß. Beim Dorfschmiedemeister, er war der Bruder meiner Großmutter, habe ich oft zugeschaut, wie so ein Hufeisen aufgebracht und wie die besonders geformten Hufnägel angesetzt wurden, um das Pferd richtig zu beschlagen. Zum Reiten sind wir dann nicht mehr gekommen.

 

Die Männer vom Dorf hatten derweil eine andere Aufgabe. Sie gingen auf die Felder und Fluren, suchten, bargen und begruben die gefallenen Soldaten. Zwei Soldaten konnten identifiziert werden. Nachdem Onkel Willi Dworak aus dem tschechischen Straflager nach Deutschland zu seiner Familie zurückkehrte, teilte er die traurige Nachricht den Hinterbliebenen mit und übergab ihnen die Erkennungsmarken der Toten. Es mussten auch mehrere Pferde, die verendet waren, begraben werden.  Diese wurden mit Pferden zu den Schützengräben gezogen, hineingeworfen und mit Erde zugedeckt. Hierbei machten wir die Erfahrung, dass ein paar Pferde ein totes Pferd nur auf dem Boden ziehen konnten, wenn es an den Vorderbeinen gezogen wurde.

 

Nach den Kampftruppen kamen die Besatzungstruppen. Es passierten böse Dinge, die ich nicht aufschreiben möchte. Nur einen leichten Fall, bei dem ich dabei war: Ein Russe sah die Uhrenkette an Großvaters Jankerl, zog die Pistole und sagte: „dawei Tschassi“ (gib Uhr). Somit war die Taschenuhr auch verloren. Herr Ribnitzky, der Vater meines Freundes Peter, war unser Bürgermeister. Man weiß es nicht mehr genau, nach wie vielen Tagen der deutsche Bürgermeister abgesetzt wurde.  Danach übernahmen die Tschechen die Gemeindeführung mit dem „Narodni vibor“.

 

An einem Tag gab es großen Lärm im Ort. Etliche deutsche Männer wurden von einer Gruppe junger Tschechen aus ihren Häusern geholt, an Ketten festgemacht und mit Ketten geschlagen. Meine Mutter weinte und sagte zum Vater: „Jetzt holen sie auch Dich“. Wir hatten großes Glück – sie holten ihn nicht. Vater spielte schon vor dem Krieg mit Schikel Mootz in einer tschechischen Musikkapelle in Rausnitz (Rousinov). Er war im Umland bei den Tschechen gut bekannt, somit musste er das Leid der anderen Männer nicht tragen. Die Männer kamen in ein Straflager. Josef Brtnik, ein Cousin vom Vater kam dort zu Tode. Viele andere kamen krank nach Deutschland. Unser Onkel Willi, der Ortsbauernführer war, starb nach wenigen Jahren in Deutschland.

 

Vom Narodni Vibor kam die Anordnung, dass jeder Deutsche, der Waffen im Haus hatte, diese abgeben muss. Bei Zuwiderhandlung wird er bestraft. Vater sagte, dass er seine Waffen nicht abgeben wird.  Mutter mein darauf: „Alle wissen doch, dass Du zur Jagd gegangen bist. Du wirst uns noch unglücklich machen!“ Also meißelten wir die Pferdestallmauer wieder auf und lieferten die Gewehre ab. Die Pistole aber hat Vater erst einen Tag vor der Ausweisung in unseren Brunnen geworfen.

 

Es kamen die neuen Siedler. Sie übernahmen die Höfe und Häuser. Wir mussten aus unserem Haus Nr. 6 raus und durften zum Glück zu unserem Großvater ins Ausdinghaus. Der neue Hospodar mit Familie ging erst zum Pfarrhaus und holte den Pfarrer. Dieser segnete die Räume und erst dann zog der neue Bauer mit Familie bei uns ein. Die Familie hieß Skazel, die gut zu Mutter, Schwester und Großvater waren. Vater und ich wurden zwangsverpflichtet zu dem Bauer Bartak nach Holubitz. Dort hatten wir wieder etwas Glück, denn der alte Bauer war gut zu uns. Für mich war er wie ein Großvater. Nur die Bäuerin sagte einmal zum Bauer: „Die Deutschen reden so, wie Hunde bellen.“ Wir mussten schwer arbeiten. Ich durfte nur mit Genehmigung und Passierschein, der vom Narodni Vibor ausgestellt wurde, zur Mutter nach Hause.  Diesen Schein gab es höchstens alle zwei bis drei Wochen. Ich war damals 13 ½ Jahre alt. Die jüngste Tochter vom Bauern schlachtete öfter einen Hasen für mich, wenn ich nach Hause durfte. Damit wir was zu essen hätten, sagte sie.

 

Einmal bin ich erst um 06.00 Uhr von Grundrum zu meiner Arbeitsstelle ins 8 km entfernte Holubitz gegangen. Es gab Schneefall mit sehr starkem Wind und es war noch dunkel. Ich war bereits durch Rausnitz durch, da begegneten mir zwei Arbeiter, die zur Arbeit nach Rausnitz gingen.  Einer davon packte mich und wollte mich nicht mehr weitergehen lassen. Er sagte: „ti smrschnesch Chlaptsche (du erfrierst, Junge). Ich konnte ihm keine Antwort geben, da er sonst gleich gemerkt hätte, dass ich Deutscher bin. Das N für „Nemetz“ (Deutscher) trug ich unter dem Mantel. Man musste es immer sichtbar tragen, wie die Juden ihren Judenstern. Ich wandte mich von ihnen ab und ging weiter. Sie ließen mich gehen und schüttelten nur den Kopf. So ging die unfreie Zeit dahin, bis wir Ende Juni die Aufforderung bekamen, die Sachen zu packen, um wegzugehen. Wir durften nur so viel mitnehmen, wie jeder tragen konnte. Mutter bekam eine Sondergenehmigung und durfte ihre Nähmaschine mitnehmen, weil sie gelernte Schneiderin war.

 

Am 28. Juni 1946 fuhr uns der Bauer Skazel mit seinem Pferdefuhrwerk nach Wischau. In einem noch nicht fertig gestellten großen Bau, in dem im Keller das Wasser kniehoch stand, übernachteten wir zwei Nächte mit mehreren Familien. Am 30. Juni morgens wurden unsere Sachen auf einen LKW geladen. Dann fuhren wir auf der Kaiserstraße nach Brünn. Dabei kamen wir an Gundrum vorbei. Diese Erinnerung tut sehr weh.

 

In Brünn-Malomirschitz kamen wir in ein Barackenlager, das mit Ungeziefer und Wanzen befallen war. Sechs Tage waren wir in diesem Lager. Meine Schwester sah aus, wie ein Streuselkuchen; ihr Gesicht und ihr Blut schmeckten wahrscheinlich dem Ungeziefer. Am 05. Juli wurden wir mit unseren Sachen in den Güterwagen verfrachtet. Unser Wagen hatte die Nr. 6, wie unser Haus zu Hause in Gundrum. Der Wagen hatte keine Fenster, nur eine Schiebetür auf jeder Seite. Wir wurden über die Moldau – Prag und Furt im Walde nach Deutschland gefahren. Es war der 06. Juli 1946.

 

In Furt im Walde wurden wir registriert. Zur Vorsorge wurden wir mit einem weißen Pulver eingesprüht. Es war ein Vernichtungsmittel gegen Ungeziefer. Wie lange wir in Furt im Walde waren, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir fuhren weiter Richtung Westen. Keiner wußte wo es hinging. Wir stierten irgendwie apathisch auf unsere Sachen und registrierten überhaupt nicht, durch welche Ortschaften wir kamen. Bei den Haltestellen kamen fremde Leute zu den Wagons und bettelten. Großvater hat mehrmals vom Brot ein Stück abgeschnitten und gab es ihnen. Vater sagte deswegen zu Großvater: „Spar das Brot, in Deutschland gibt es wahrscheinlich nicht genug zum Essen.“ In Wasseralfingen hielt der Zug und es hieß, aussteigen, wir wären angekommen! Wir wurden ins Rukenlager gebracht, wo es wieder Baracken gab. Das Essen war knapp bemessen. Wir hatten noch etwas Brot, das wir in kleine Würfel schnitten und auf einem ausgebreiteten Leinentuch in der Sonne trockneten. Mutter gab uns jeden Tag zwei Würfelchen als Zusatz zum mageren Essen. So vegetierten wir zwei Wochen dahin.

 

Bis wir in der alten evangelischen Schule in Ellwangen in der Priestergasse eine Bleibe bekamen. In einem Klassenraum waren mehrere Familien in Stockbetten untergebracht. Das Essen bekamen wir von der ehemaligen Flackkaserne in einer Aluminiumschüssel. In der Kaserne gab es keine Möglichkeit zu Essen. So trugen wir unser Essen in der Schüssel bis zur Schule, setzten uns auf `s Bett und verschlagen den bereits kalten Eintopf. Es war sehr deprimierend, das Essen mit der Schüssel zu holen, und wie ein Aussätziger angeschaut zu werden. Auch unser Onkel Hans wurde wieder ausfindig gemacht. Er war nach seiner Gefangenschaft Schreiner bei den Amerikanern in deren Kaserne in München. Wenn er am Sonntag seine Familie besuchte, bekamen wir auch immer was von dem Essen der Amerikaner ab. Nach zwei Wochen bekamen wir ein Zimmer und einen Kellerraum in der Seb.-Merkle-Straße zugewiesen. Aus der Kaserne bekamen wir Bettgestelle, einen Tisch und zwei SS-Hocker.

 

Es wurden Strohsäcke gemacht. Vom Bauer Pfitzer bekamen wir das Stroh zum Ausstopfen der Säcke. Und so hatten wir endlich wieder richtige Betten. Im Keller kochten wir auf dem Herd, den die Stadt uns besorgte. Der Kellerraum war gerade so breit, dass zwei Betten und dazwischen ein Tischchen Platz hatten. So saßen wir auf den Betten und konnten am Tisch sitzen. Abend waren die Betten für Großvater und mich wieder die Schlafstellen. Es begann wieder ein Leben – ganz anders als daheim. (All dieses habe ich nach 65 Jahren im Februar 2011 aus dem Gedächtnis für unsere Nachkommen aufgeschrieben. Es kann durchaus sein, dass ich mich bei manchen Daten und Namen geirrt habe. Aber so habe ich diese Zeit wirklich erlebt. (Ellwangen, Februar 2011 Erich Bernard)

Schicksalsjahre 1945 / 1946 (Josef Legner und Mattäus Wittek)

Vor 60 Jahren – Schicksalsjahre 1945 / 1946
(von Josef Legner und Matthäus Wittek, verfasst im Jahre 2005)

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 begann vor 60 Jahren das Drama der Deutschen in den Ostgebieten, im Sudetenland, im Protektorat und selbstverständlich auch in der Wischauer Sprachinsel. Für uns alle, die diese schrecklichen Zeiten erleben, ertragen und erdulden mussten, wird sie für immer unvergessen bleiben.

 

Die Stimmung in der Bevölkerung wurde spürbar verändert. Die Siegeszuversicht der vergangenen Jahre war verflogen, die Zahl der Gefallenen und Vermissten bei den Familien wurde immer größer. In fast jeder Familie gab es Opfer, der Vater, der Sohn, der Onkel, sie waren tot, vermisst oder verschollen. Auch die Auswirkungen des Krieges waren in der Sprachinsel um die Jahreswende 1944/1945 ganz unmittelbar zu spüren.

 

Die Landeshauptstadt Brünn musste im November 1944 einen schweren Bombenangriff ertragen. Wie viele Opfer es gab, ist nicht bekannt. Die ersten Flüchtlinge aus der Batschka kamen mit ihren bespannten Wägen in die Dörfer der Sprachinsel. Sie waren erkältet und hatten Blasenleiden. Viele der Kinder hatten aufgrund der mangelnden Hygiene schrecklichen Ausschlag. Es konnte ihnen nur mit einem warmen Bett, mit einer warmen Mahlzeit und vor allem der Möglichkeit, sich wieder einmal zu waschen, geholfen werden. Mehr konnte den armen Menschen, die im Winter diese Strapaze ertragen mussten, nicht gegeben werden. Das gleiche gilt für die Flüchtlinge aus Schlesien, die im Februar 1945 durch die Dörfer der Sprachinsel zogen. Auch ihnen wurde versucht zu helfen, so gut es ging.

 

Alle diese Ereignisse waren für die Menschen sehr bedrückend. Die Nachrichten von den Fronten wurden immer bedrohlicher. An der Ostfront verlief sie Ende 1944 etwa auf der Linie Ostpreussen, Weichsel, im Süden bei Kaschau in der Slowakei und in Ungarn, Budapest und Fünfkirchen. Immer öfters wurde die Frage gestellt, werden auch wir die Heimat verlassen müssen, oder wird der Krieg noch rechtzeitig beendet werden, bevor der Krieg in die Sprachinsel kommt. Die Optimisten glaubten noch an einen Sieg mit den Wunderwaffen, die Pessimisten hofften auf eine Beendigung des Krieges so schnell wie möglich und bevor die Front ihre Heimat erreicht.

 

Trotz all dieser Sorgen wurden die notwendigen Arbeiten, die immer in den Wintermonaten gemacht werden mussten, getan. Die Säcke für das Getreide und die Kartoffeln wurden von den Frauen geflickt, die Männer reparierten die landwirtschaftlichen Geräte für das kommende Frühjahr. Sie alle wussten nicht, dass sie noch anbauen aber nicht mehr ernten würden. Die eigene Propaganda verheimlichte ihnen jede Information. Kein Wort über die Beschlüsse von Jalta und kein Wort über das Kaschauer Programm von Benesch, in dem bereits die Grundzüge der Vertreibung festgelegt wurden. Die brutale Wahrheit dieses schrecklichen Krieges erreichte uns wenige Wochen später.

 

Es gab keinen Zweifel mehr, alle, die in diesen dramatischen Wochen das Geschehen an den Fronten zur Kenntnis nahmen wussten, dass der Krieg verloren ist. Die Bevölkerung in der Sprachinsel verfolgte mit großer Sorge den Rückzug der deutschen Truppen. Lastwagen mit Holzvergaser quälten sich mühsam durch die Dörfer. Auch die Propagandaaufschriften an den Wägen "Räder müssen rollen für den Sieg", konnten den Eindruck nicht verwischen, dass es eine geschlagene Armee ist. In den Dörfern wurde aufgerufen, für die Holzvergaser der Wägen Holz abzuliefern. Dies wurde gemacht, aber trotzdem wurde von den deutschen Soldaten noch zusätzlich organisiert (gestohlen). Diese geschundenen und abgekämpften, hoffnungslosen Truppen wollten weg, und dazu brauchten sie Holz und nicht Parolen. Mit viel Propaganda wurde nochmals die Siegeszuversicht verkündet, als am 12. April überraschend der amerikanische Präsident Roosevelt starb. Die Geschichte musste nochmals für einen Vergleich herhalten, der so niemals richtig war. Friedrich der Große hatte nach dem überraschenden Tod der russischen Zarin Elisabeth eine veränderte politische Situation und konnte diese nutzen. Diese Chance hatte das Naziregime nicht. Ob dieser Tod von Roosevelt bei den Menschen in der Sprachinsel noch einmal einen Hoffnungsschimmer erweckte, darf bezweifelt werden.

 

Einige Tage bevor die Front die Sprachinsel erreichte, wurden in Wischau die Kasernen aufgelöst. Die Frauen und Männer wurden nach Hause geschickt und jedermann war es bewusst, jetzt dauert es nicht mehr lange und der Krieg wird unsere Heimat erreichen. Es begann das Verstecken und Vergraben wertvoller Gegenstände oder dessen,  was man dafür hielt; meistens war alles vergeblich, denn die rote Armee hatte Erfahrung im Aufstöbern von versteckten Wertgegenständen und fand deshalb sehr viel wieder. Von der Zuckerfabrik in Wischau wurden die Vertragsbauern aufgerufen, den vorhandenen Zucker abzuholen und zu verteilen. Zwei Tage fuhren die Wagen der Bauern und räumten die Bestände der Fabrik leer. Ob auch die tschechischen Vertragsbauern ihren Anteil bekamen ist nicht bekannt.

 

Die noch lebenden Menschen der Sprachinsel werden den Flugzeugangriff auf die Landeshauptstadt Brünn nicht vergessen, der ein oder zwei Tage bevor die Russen die Stadt eingenommen haben, stattfand. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend, die Dörfer lagen eingebettet in ihrer Stille und erwarteten die Nacht. Von der Front im Süden des Landes hörte man an diesem Abend kein Grollen. Ganz plötzlich aber war es mit dieser Stille vorbei und Sirenengeheul sowie unzählige Flugzeugmotoren war zu hören. Über Brünn wurden unzählige Leuchtbomben, die sogenannten Christbäume abgeworfen. Der Himmel über der Stadt war taghell erleuchtet - die Bombardierung hatte begonnen. Dies war die Vorbereitung für den Todesstoß auf die Stadt. Ob es russische oder alliierte Flugzeuge waren, die ihre Bombenlast über der Stadt abwarfen, ist den Chronisten nicht bekannt. Dieses Schauspiel am erleuchteten Horizont war schaurig und doch auch schön, denn so etwas haben wir in der Sprachinsel noch nie gesehen und erlebt. Alle Menschen aber, die dieses Drama voller Angst und Sorgen betrachteten, wussten, dies ist der Anfang vom Ende und die Front wird uns in wenigen Tagen erreichen.

 

Der 27. April 1945, der Tag, an dem die Front die Sprachinsel erreichte, war ein wunderschöner, warmer Frühlingstag, ein Tag, an dem sich die Herzen und Seelen für die kommende schöne Jahreszeit öffnen. Die Menschen hatten in diesen Tagen keinen Sinn für die Schönheiten der Natur, denn sie hatten Angst vor dem Kommenden und sie hatten Sorgen, wie es weiter gehen wird! Überall wurde die Bevölkerung auf Anweisung des deutschen Militärs zum Schanzen eingesetzt. Die deutschen Truppen und ihre spärlichen Versorgungseinheiten zogen mühsam und abgekämpft auf den Straßen und Feldwegen in Richtung Norden. Die Devise war: "Weg so schnell wie möglich, und den Russen ja nicht in den Händen fallen". Nirgendwo konnte man eine organisierte Verteidigungslinie sehen oder erkennen. Man sah und spürte, wir, die Deutschen sind am Ende. Nach schweren Fliegerangriffen auf die deutschen Nachschubeinheiten in Rosternitz und Hobitschau waren die Russen am Nachmittag dieses schicksalhaften Tages plötzlich da. Sie kamen über die Wetterling und erreichten die Gemeinde Kutscherau am späten Nachmittag.

 

Wir möchten nicht darüber berichten was in diesen schrecklichen Tagen die Menschen erleiden und erdulden mussten, denn das haben unsere Väter sehr ausführlich und sehr umfassend in dem Heimatbuch über die Wischauer Sprachinsel von 1964 geschildert. Unser Bestreben ist es, davon zu erzählen, was die Menschen der Sprachinsel nach der Heimsuchung durch das Frontgeschehen erlebten, was sie bewegte, was sie erhofften und was sie befürchteten. Am ersten Mai wurde von den Russen angeordnet, dass die Häuser mit roten Fahnen zu schmücken sind. Dafür wurden die Hakenkreuzfahnen verwendet; der weiße Kreis wurde abgetrennt und schon war eine rote Fahne auf den Dächern. Es war schon ein eigenartiges Gefühl, diese Fahnen, die noch am 20. April an allen öffentlichen Gebäuden aufgehängt werden mussten, nun als Zeichen der deutschen Niederlage zu sehen. Die Vergänglichkeit der Symbole wurde da schnell bewusst. Die russischen Soldaten haben uns mit viel Freude berichtet "Chitler kaputt, Chitler kaputt, Woina kaputt". Alle Radioapparate mussten abgegeben werden und wurden achtlos auf die Lastwagen geworfen. Wir hatten keine Informationen und erfuhren auf diese Art vom Tod Hitlers. Jeder wusste, das Ende steht kurz bevor. Wahrscheinlich hat auch die Mehrzahl der Menschen dieses Ende herbeigesehnt, um das unnötige und sinnlose Sterben zu beenden. Die Bevölkerung der Dörfer begrub ihre Toten; Diese wurden ohne große kirchliche und familiäre Feierlichkeiten teilweise in Massengräbern verscharrt.

 

Es war bitter, so von den Angehörigen Abschied zu nehmen. Der 9. Mai, der Tag der deutschen Kapitulation wurde in Kutscherau von den Russen mit großem Aufmarsch gefeiert, alle, auch die Sprachinsler, waren froh, dass der Krieg nun zu Ende ist. In Thereschau wurde am 9. Mai die deutsche Bevölkerung aus den Häusern vertrieben und nach Wischau ins Lager gebracht. Während der armselige Zug nach Wischau gejagt wurde, haben in den umliegenden tschechischen Dörfern die Kirchenglocken das Ende des Krieges verkündet. Für die armen Thereschauer war dieses Läuten der Glocken kein Zeichen der Freude und des Friedens, sondern der Beginn einer leidvollen Zeit. Schnell hatte sich die Vertreibung der Thereschauer in der Sprachinsel herumgesprochen und überall hatte man Angst, das gleiche Schicksal zu erleiden.

 

Es gibt da eine Geschichte aus Kutscherau, ob sie authentisch ist oder nicht, kann nicht verbürgt werden. Einige hitzige und aufgebrachte Bochdalitzer wollten die Kutscherauer ebenfalls vertreiben. Der Bochdalitzer Schmied soll sich ihnen entgegengestellt und gefragt haben, was haben euch den die Kutscherauer getan, warum wollt ihr das tun? Er konnte mit seinem menschlichen Verhalten viel Leid vermeiden und es ist zu wünschen, dass sich diese Geschichte wirklich so zugetragen hat. Trotz dieser Unsicherheit versuchten die Menschen, ihren Alltag wieder zu gestalten. Mit den zurückgelassenen, russischen, kranken und arbeitsungewohnten Pferden wurden die Arbeiten auf den Feldern wieder aufgenommen, denn diese erd- und heimatverbundenen Menschen kannten es nicht anders. Sie wussten ganz genau, sie leben von dem, was ihrer Hände Arbeit leisteten und sie taten das, was sie immer taten. Sie taten es auch jetzt nach dieser Katastrophe und hofften es werde einmal wieder so sein wie früher.

Ende Mai 1945 starb der langjährige Pfarrer Vybihal im Wischauer Krankenhaus, denn er war schon schwer zuckerkrank Seine Beerdigung war das letzte, große Beisammensein der deutschen Bevölkerung.

 

Die Russen hatten die Ausgehbeschränkungen aufgehoben. Die Kirche und der Friedhof waren voll von Menschen, die Abschied von ihrem beliebten tschechischen Seelsorger nahmen. Wahrscheinlich wurde von den meisten Menschen gar nicht wahrgenommen, dass bereits die Behörden angeordnet hatten, keine deutschen Gottesdienste mehr abzuhalten.

 

Anfang Juni zogen die letzten Russen aus der Sprachinsel ab. Die Optimisten, welche glaubten es werde wieder so wie früher, wurden bitter enttäuscht. Plötzlich waren die Besetzer der Häuser da und sagten, das gehört jetzt mir. Vom Narodni Vybor, der tschechischen Verwaltung, wurde eine Inventarbewertung vorgenommen und das Haus und der Hof an die neuen Eigentümer übergeben. Die Menschen der Sprachinsel wollten und konnten es nicht glauben.  Der Boden, auf den sie aufwuchsen, die Häuser, die sie erbauten, die Landwirtschaften, die sie einrichteten, das alles mussten sie verlassen und den neuen Ansiedlern übergeben. Es war unvorstellbar für sie, denn sie wussten nichts von den Benesch-Dekreten und von den wilden Vertreibungen im Sudetenland. Auch, dass die Deutschen aus Brünn bereits vertrieben wurden, war - zumindest in der unteren Sprachinsel - nicht bekannt.

 

Die ersten deutschen Männer wurden verhaftet und nach Wischau ins Lager im alten Schloss gebracht. Was ihnen vorgeworfen wurde, konnte nur erahnt werden. Der Willkür waren in diesen ersten Tagen und Wochen alle Tore geöffnet. Die Menschen mussten Schlimmes ertragen, erdulden und erleiden. Scheinerschießungen, Hunger und Schikanen waren in diesen schrecklichen Wochen normal. Über Schuld oder Unschuld dieser unglücklichen Menschen wollen wir nach 60 Jahren nicht werten, sondern nur erinnern, was sich Menschen antun können.

 

In den Dörfern haben die neuen Eigentümer, die Tschechen, mit Hilfe der alten Eigentümer die Ernte so gut wie möglich einzubringen versucht. Viele Sprachinsler mussten jedoch bereits noch vor der Ernte zu tschechischen Bauern in der näheren und weiteren Umgebung zur Arbeit antreten. Dabei wurde oft keine Rücksicht auf Familienverhältnisse und halbwüchsige Kinder genommen, sondern es wurde zu unterschiedlichsten Arbeitsstellen und Ortschaften aufgeteilt. Das Elend war groß und die Familien sahen sich oft Monate nicht.

 

Es gab aber auch gute Beispiele. Oberhalb Hobitschau liegt der Maierhof. Er gehörte der Familie Podivinsky. Diese Familie bekam den Hof nach 1918 für besondere Leistung für die Republik. Bewirtschaftet wurde er überwiegend von tschechischen Mitarbeitern. Das Verhältnis zu den Hobitschauern war normal und nicht gehässig. Das ändert sich nach Kriegsende 1945, denn die tschechischen Gutsarbeiter wollten jetzt auch eigene, selbständig Bauern werden. Sie suchten sich noch vor der Ernte Bauernhöfe in Hobitschau aus und nahmen diese in Besitz. Die ansässigen deutschen Bauern mussten ihre Höfe verlassen. So kamen auch 9 deutsche Familien auf den Maierhof. Die Männer bekamen ein Pferde- oder Ochsengespann, die Frauen und Jugendlichen mussten auf den Feldern und im Stall arbeiten. Eingeteilt wurden sie von einem tschechischen Verwalter (Schaffarschick). Dieser merkte bald, daß er Fachleute hatte, die ihre Arbeiten selbständig und gewissenhaft ausführen konnten. Dadurch wurde den Arbeitern auch relative Freiheiten zu gestanden. Es muss festgehalten werden das diese Familien anständig und fair behandelt wurden. Sie bekamen für ihre Arbeit Deputat und eine Entlohnung. Untergebracht waren sie im Gesindehaus, wo jede Familie zwei Räume bekam. Für die früheren Besitzer der Höfe aber war es schon sehr bedrückend zu sehen, wie auf ihren Besitzungen nun fremde Tschechen ein- und ausgingen.

 

Die tschechischen Neusiedler und Besetzer der Häuser taten sich schwer mit der Bewirtschaftung ihres neuen Eigentums. Die Vernünftigen unter ihnen versuchten - oft gegen den Willen der Behörden - solange wie möglich die deutschen Alteigentümer im Haus zu behalten und so viel wie möglich von ihnen zu lernen. Nach der Ernte wurde der Druck von den Behörden aber so stark und die deutschen Familien mussten auch ihre Häuser verlassen und als billige Kraft in der Umgebung arbeiten. Die neuen Besitzer der Bauernhäuser waren sehr oft ehemalige landlose landwirtschaftliche Arbeiter (Knechte). Auf die Stüblerhäuser kamen sehr viele Menschen aus der Umgebung des Truppenübungsplatzes, der Cosa–Horka. Während der Protektoratszeit wurde der Truppenübungsplatz erweitert und die Menschen waren während des Krieges in Notunterkünften untergebracht. Diese Neuansiedler der Dörfer waren unterschiedlichster Herkunft und Bildung, und fast alle kamen mit einer Goldgräberstimmung in die Ortschaften, wo nur die Übernahme des deutschen Besitzes zählte.

 

Im Herbst 1945 waren die Dörfer der Sprachinsel bereits zu 70-80% mit tschechischer Bevölkerung belegt. Diese Menschen, die aus den verschiedensten Dörfern der näheren und weiteren Umgebung den deutschen Besitz übernahmen, waren sich fremd und mussten auch erst ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Am 1. September 1945 wurden die Volkschulen in Kutscherau und Hobitschau als tschechische Schulen neu eröffnet. In Rosternitz konnte die Schule erst im Jahre 1946 eingerichtet werden, da sie durch Kriegseinwirkung und durch die Besetzung mit russischen Soldaten in einem sehr schlechten Zustand war. Alle deutschen Schulen sind bereits im Juni 1945 in der gesamten Republik verboten worden. Die deutschen Kinder gingen in dieser Zeit in keine Schule, denn sie wurden bei den verschiedensten Arbeiten in der Landwirtschaft eingesetzt oder halfen in ihren Familien mit, das Notwendigste zum Essen zu besorgen. Besonders die alleinstehenden Frauen mit Kindern, deren Männer noch in der Gefangenschaft waren oder im Krieg gefallen sind, konnten zur Arbeit bei den tschechischen Bauern nur bedingt eingesetzt werden und hatten bittere Not zu leiden.

 

Diese Notlage verschärfte sich noch, als in diesen Herbsttagen die Reichsmark als Zahlungsmittel aus den Geldkreislauf gezogen wurde. Vorhandene Geldbestände in Reichsmark konnten daher von den Deutschen nicht mehr verwendet werden, was die allgemeine Situation nochmals verschlechterte. Es gab aber auch erste positive Anzeichen, die Post funktionierte wieder und einige Frauen und Familien bekamen Post von ihren Männer oder Söhnen. Sie waren bereits aus der Gefangenschaft entlassen oder schrieben aus der Gefangenschaft. Erste Lebenszeichen von den Lieben erweckten Hoffnungen, daß sich alles zum Guten wenden wird. Vereinzelt kamen auch junge, todkranke Soldaten aus der Gefangenschaft heim. Wir kennen das Schicksal von solchen Heimkehrern, die in Brünn im Krankenhaus oder im Wischauer Lager starben. Es war schon bitter zu sehen, wie diese jungen Männer, die wohl den Krieg überlebten, aber nun in der Heimat sterben mussten.

 

Mit dem Beginn der Zuckerrübenernte war der Arbeitskräftebedarf überall größer geworden. In der Zuckerfabrik in Wischau wurde nun die Generation der Großväter und Großmütter zur Arbeit eingesetzt. Das Arbeitsamt in Wischau machte nochmals eine Aktion in den deutschen Dörfern, wobei die letzten Reserven an älteren Arbeitskräften mobilisiert wurden. Die Unterbringung war auch hier sehr schlecht. Zwei bis drei Familien mussten sich einen Raum teilen und da in Schichten gearbeitet wurde, war das zusätzlich eine große Belastung für alle.

 

In den deutschen Dörfern wurden von den neuen Bewohnern die ersten Gemeinderäte gewählt, wobei fast in allen Gemeinden der Sprachinsel die Kommunisten zur stärksten Gruppierung wurden. Rechtliche Grundlage für all diese Maßnahmen gegenüber der deutschen Bevölkerung waren die Benesch-Dekrete. Wir möchten diese Dekrete im Einzelnen aufzeigen, da wir der Meinung sind, die Einzel–Dekrete sind den meisten Lesern unseres Heimatboten nicht bekannt.

  • Bereits im Kaschauer Statut vom 5. April 1945 wurde den Deutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt.
  • im Dekret des Präsidenten der Republik vom 19. Mai 1945, im folgenden Benesch-Dekret genannt, wurde das Vermögen und Eigentum der Deutschen unter nationale Verwaltung gestellt.
  • Benesch-Dekret vom 19. Juni 1945 über die Bestrafung nazistischer Verbrecher, Verräter und ihrer Helfer und über die Volksgerichte, auch Restributionsdekret genannt. Benesch-Dekret vom 21. Juni 1945 über die Konfiszierung des landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen und Magyaren und die beschleunigte Aufteilung.
  • Benesch-Dekret vom 20. Juli 1945 über die Besiedlung des konfiszierten landwirtschaftlichen Bodens.
  • Verfassungsdekret des Präsidenten Benesch vom 2. August 1945 über die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft der Personen deutscher und magyarischen Nationalität.
  • Benesch-Dekret vom 19. September 1945 über die Arbeitspflicht.
  • Benesch-Dekret vom 25. Oktober 1945 über Konfiskation des feindlichen Vermögens. Konfisziert ohne Entschädigung.
  • Das umstrittenste Dekret in der aktuellen Diskussion ist das Gesetz vom 8. Mai 1946, nach welchem alle Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer zum Ziele hatten, als rechtmäßig erklärt wurden, auch wenn sie nach geltendem Recht strafbar gewesen wären. Damit wurden alle an den Deutschen verübten Verbrechen gutgeheißen und die Täter amnestiert. (Soweit die Dokumentation über die Benesch-Dekrete, die bis heute sehr umstritten sind. Wir hoffen, dass in Zukunft auch dieser Zankapfel der Politik zwischen den beiden Nationen für alle zufriedenstellend gelöst wird.)

Das schicksalsträchtige Jahr 1945 neigte sich langsam dem Ende zu. Die Menschen der Sprachinsel waren in der näheren und weiteren Umgebung ihrer Heimat zum Arbeitseinsatz, meistens in der Landwirtschaft verteilt. Die Familien vielfach zerrissen, sahen sich oft wochenlang nicht. Der tschechische Pfarrer Pavlica schreibt in seiner Chronik zu dieser schrecklichen Zeit: Das war für die deutschen Bewohner wirklich schwer und bitter. Der Boden, auf dem sie aufwuchsen, die Häuser, die sie erbauten, die Landwirtschaften, die sie einrichteten, dass alles mussten sie verlassen. Und sie, die an selbständiges Arbeiten gewohnt waren, mussten nun bei den Bauern in den umliegenden Dörfern der Tschechen dienen. Schlimm war dabei, dass die Familien oft getrennt wurden. Wir glauben, treffender hätten auch wir diese Notzeit nicht beschreiben können.

 

Auch eine Richtigstellung aus dieser Zeit glauben wir den Lesern des Wischauer Heimatboten nicht vorenthalten zu wollen. Es wurde von unseren Eltern und Großeltern immer wieder erzählt, dass dieser Pfarrer Pavlica in einer Predigt zu dieser Zeit die Enteignung und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechei als gottgewollte Strafe für die Verbrechen der Deutschen während des Krieges gerechtfertigt ansah. Die historische Wahrheit ist, es war keine Predigt, sondern ein Hirtenbrief, der auf Anweisung des Episkopat der Tschechoslowakei in allen Kirchen verkündet werden musste. Dieser Hirtenbrief ist auf Druck des Prager Erzbischof Beran, der während der Protektoratszeit in einem deutschen KZ war, zur Beruhigung der tschechischen Katholiken verlesen worden. Ironie der Geschichte, es war die kleine Gemeinde der tschechischen evangelischen Kirche, also die Nachfolger der Hussiten, die 500 Jahre früher den Tod und die Vertreibung aller Deutschen auf ihr Banner geschrieben haben, die offiziell bei der Prager Regierung gegen die bevorstehende Vertreibung protestiert und erst kürzlich sich erneut dafür entschuldigt haben.

 

Weihnachten 1945, der Krieg war zu Ende, Millionen Menschen in der Welt feierten diese erste Friedensweihnacht mit besonderer Andacht und Dankbarkeit. Sie dankten Gott für das Ende dieses schrecklichen Krieges und hofften, dass es nie wieder zu einer solchen Heimsuchung kommen würde. Und die Menschen der Sprachinsel - feierten auch sie Weihnachten? Wir wissen es nicht, gab es eine Familie in der Sprachinsel, die diese erste Friedensweihnacht zusammen mit der ganzen Familie, mit Christbaum und Gottesdienst in der Kirche feiern konnte? Sollte es das doch gegeben haben, dann war das ein besonderer Glücksfall für diese Familien und sie hatten bestimmt noch mehr Grund, diese erste Nachkriegsweihnachten mit großer Dankbarkeit zu feiern. Die Mehrheit der Menschen in der Sprachinsel aber erlebten diese Zeit in einer Phase von bedrückt und Ungewissheit, viele Familien wussten noch nicht, ob ihre Männer, Söhne und Väter diesen schrecklichsten aller Kriege überlebt haben. Sind sie in der Gefangenschaft, werden sie sich bald melden? Diese Sorgen waren bei den Familien, die wussten, dass ihre Lieben an der Ostfront waren, besonders stark ausgeprägt. Noch gab es aus den russischen Gefangenenlagern kaum Nachrichten.

 

Willkür und Schikanen wurden um die Weihnachtszeit 1945 nicht mehr in so brutaler Weise ausgeübt wie in den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriegsende. Doch die allgemeine Rechtlosigkeit der Deutschen, vertrieben von Haus und Hof und die Ungewissheit, wie es weiter gehen soll, war für die Sprachinsler sehr bedrückend. Es gab aber auch die ersten Halbinformationen und Gerüchte, dass alle Deutschen ausgewiesen werden nach Deutschland. Dieses Wissen wurde mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Die Jüngeren sahen darin einen Hoffnungsschimmer, die Älteren ahnten, die Heimat ist damit für immer verloren. Mit diesen Erinnerungen an die Demütigungen und Rechtlosigkeit der Deutschen möchten wir aber auch an das korrekte Verhalten einzelner Tschechen, ob im Amt oder am Arbeitsplatz, ausdrücklich hervorheben. Nicht wenige Sprachinsler verdankten der persönlichen Hilfsbereitschaft und dem Entgegenkommen mancher Tschechen eine Erleichterung ihres schweren Schicksals.

 

Eine besondere Würdigung verdient die Hilfsaktion des Tschechen Premysl Pitter für deutsche Kinder, die ihre Eltern durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse, vor allem in den tschechischen Lagern, verloren hatten und in den Massenlagern verwahrlosten und zugrunde gingen. Gegen den anfäglichen Widerstand der Behörden brachte er Hunderte Kinder in den von ihm errichteten Heimen unter und rettete ihr Leben. Mit diesem Beispiel menschlichen und christlichen Verhaltens möchten wir in unseren Gedenken an die Zeit vor 60 Jahren diese besonders würdigen. Waren es auch nur wenige, so mögen sie doch besonders in der Weihnachtszeit ein Zeugnis für alle Menschen sein, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe nicht zu vergessen.

 

Die organisierte Vertreibung aus der Tschechoslowakei begann im Januar 1946. Sie beruhte auf Verhandlungen von Vertretern der amerikanischen Besatzungsbehörden mit Vertretern der tschechoslowakischen Regierung am 8. und 9. Januar 1946. Nach dieser Vereinbarung durften die Auswandernden (so die damalige Sprachregelung), hinreichend Kleidung, 30-50 Kilogramm Gepäck und 1000 RM mitnehmen. Die Transporte sollten durchschnittlich 1.200 Personen in 40 Eisenbahnwaggons, die bei schlechtem Wetter geheizt werden können, umfassen. Familien sollten nicht auseinandergerissen werden. Es war vorgesehen, täglich 4 Züge mit 4800 Personen abzufertigen. Soweit die Vereinbarungen mit den für die Vertreibung zuständigen Verantwortlichen.

 

Die Menschen der Sprachinsel wussten von diesen, für sie schicksalshaften und schrecklichen Verhandlungen und Ergebnissen nichts; auch wenn sie es gewusst hätten, auf ihr schweres Los, aus der Heimat vertrieben zu werden, konnten sie keinen Einfluss nehmen und auch nichts ändern. Sie waren beschäftigt mit dem Erhalt ihres Lebens und die Beschaffung der dafür notwendigen Grundbedürfnisse. Der Winter 1945/46 war sehr schneearm und verhältnismäßig mild. Es war, als ob die Natur ein Einsehen hätte mit den vielen Geschundenen aus der Heimat. Auch die Menschen in der Sprachinsel waren froh, dass dieser Winter, anders als in den vorhergehenden Jahren, nicht mit grimmiger Kälte sie noch zusätzlich belastete.

 

Die Verantwortung für die Deutschen, die in der Umgebung arbeiteten, hatten deren Arbeitgeber, also die Tschechen; sie mussten für das Essen, Wohnen und die Heizung sorgen. Bei den wenigen Deutschen, die noch in den Dörfern wohnten, war das anders. Für sie war niemand verantwortlich. Es waren überwiegend Mütter mit kleinen Kindern, deren Männer gefallen oder In der Gefangenschaft waren, oder Alte und Kranke, die nicht zur Arbeit herangezogen werden konnten. Sie bekamen keine geldliche Unterstützung. Nahrung und Heizmaterial waren kaum zu organisieren, denn das gab es nicht. In Kutscherau, auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei sind damals viele Kletten gewachsen. Diese waren, bedingt durch das trockene Wetter, sehr gut als Brennmaterial zu verwenden, denn deren Stengel waren zum Teil armdick. Die Mütter und die alten Frauen haben diese Stengel geholt, zu kleinen Bündel (Bindal) gehackt und zum Heizen verwendet. Im Winkelwald haben die Kinder kleine Birkenbäume umgehackt und nach Hause geschleppt, die dann halb nass verbrannt wurden. Aufgrund des Harzgehaltes dieser Bäume haben sie mehr oder weniger gut gebrannt und es war für viele bereits eine gute Schule, um die Not und Entbehrungen, die uns alle wenige Monate später in Deutschland erwarten sollte, besser zu tragen. Dass es noch viel schlimmer und schlechter werden sollte, konnten die Menschen ja nicht wissen.

 

Die Mütter und Frauen, die in dieser unbeschreiblichen Notzeit ihren Familien das Überleben sicherten, haben Großartiges geleistet. Ihre Kraft, ihren Mut, ihr Durchhaltevermögen, dies alles zu ertragen, kann gar nicht oft genug erwähnt werden. Wir wissen nicht, ob es irgendwo in Deutschland ein Denkmal für diese Flüchtlings- und Vertriebenenmütter gibt, verdient hätten es sehr viele von ihnen. Die Gewissheit, dass auch die Menschen der Sprachinsel in den nächsten Monaten vertrieben werden sollten, war zu dieser Zeit bereits bekannt. Wie die Menschen das aufnahmen, wie sie es verarbeiteten und damit umzugehen lernten, ist in vielen Zeitzeugenberichten festgehalten. Es sind Dokumente menschlicher Tragödien, aus denen die nachfolgenden Generationen lernen sollten, sich niemals wieder Derartiges anzutun.

 

Frühjahr 1946, noch vor einem Jahr haben die Bewohner der Sprachinsel wie immer ihre Felder bestellt, nicht wissend, dass sie nicht mehr ernten werden. Ein Jahr nach dieser schrecklichen Heimsuchung mussten sie wieder die Äcker und Felder bearbeiten, doch jetzt nicht mehr als Besitzer und freie Bauern, sondern als Knechte und Mägde bei den tschechischen Bauern der Umgebung, oder auf dem eigenen Hof, der ihnen nicht mehr gehörte. Die Arbeit wurde getan wie immer, die Gefühle, die sie dabei hatten waren voller Trauer, Zorn und Verzweiflung. Dass alle Deutschen ausgewiesen werden, war nun allgemein bekannt. Das Unbegreifliche, die Heimat verlassen zu müssen, wurde nicht nur mit Bitterkeit, sondern von vielen, besonders von den Jungen, auch als Chance gesehen, im fernen unbekannten Deutschland, das die meisten ja nicht kannten, in Freiheit eine neue Heimat zu finden.

 

In Wischau wurden in dieser Zeit die ersten Deutschen für die verschiedensten Vergehen zum Standartstrafmaß von 25 Jahre verurteilt, aber auch Freisprüche gab es und die ersten Menschen aus dem Lager wurden entlassen. Viel Aufregung und Angst gab es noch einmal, als es 2 Sprachinslern gelungen ist, aus dem Lager in Wischau zu entkommen. Sie schafften es, sich nach Österreich durchzuschlagen und 10 Jahre Zuchthaus sind ihnen mit ihrer spektakulären Flucht erspart geblieben. Die tschechischen Behörden haben mit verstärkten Razzien auf diese Flucht reagiert und auf der Suche nach diesen Flüchtigen mussten die Familien der Geflüchteten unangenehme Schikanen erdulden.

 

Obwohl die Vertreibung der deutschen Bewohner aus der Sprachinsel beschlossen war, mussten die deutschen Kinder sich in den nun tschechischen Schulen melden und registrieren lassen. Es wurde ihnen erklärt, dass sie in die tschechischen Schulen gehen müssen, sollte in den nächsten Wochen nicht die Aussiedlung erfolgen. In Hobitschau wurden einige deutsche Kinder vom dortigen Lehrer in die Schule aufgenommen und diese hatten noch einige Wochen in der tschechischen Schule Unterricht.

 

Ende April / Anfang Mai wurden die ersten Sprachinsler aufgerufen, sich beim Narodny vybor zu melden und wurden aufgefordert, die Aussiedlung vorzubereiten. Die Familien, die in der Umgebung bei den Tschechen in der Arbeit waren, kamen erstmals seit 1945 wieder in ihre Heimatdörfer, um in der Pfarrei ihre Papiere zu holen, Geburtsscheine und Heiratsurkunden mussten erstellt werden. Die Papiere waren auf Tschechisch ausgestellt und konnten von den meisten nicht gelesen werden. Anschließend gingen diese Menschen zu den Friedhöfen, um dort von ihren Toten Abschied zu nehmen. Wie viel Schmerz, Trauer und Verzweiflung haben diese Menschen verspürt, von denen viele wussten, dass sie die Gräber ihrer Lieben nie mehr im Leben sehen werden.

 

Die Behörden hatten für den ersten Transport ein Gepäck von 30 kg/ Person festgelegt. Der Abtransport war für Ende Mai vorgesehen. Auch die 9 deutschen Familien, die im Maierhof in Hobitschau arbeiteten, mussten sich registrieren lassen. Als Ersatz für diese deutschen Fachkräfte kamen Menschen aus der Slowakei. Diese waren zwar gute Musiker, denn ihre Instrumente hatten sie dabei, aber von der Landwirtschaft haben sie sehr wenig verstanden. Als sich der tschechische Verwalter Schaffarschick von seinen zuverlässigen, deutschen Arbeitern verabschiedete, standen ihm Tränen in den Augen. Der tschechische Pfarrer Pavlice schreibt in seinen Erinnerungen zu dieser Zeit: „Aus menschlicher Sicht war es für diese Menschen sehr grausam. Die Orte, wo sie geboren wurden, wo sie lebten und wo ihre Vorfahren begraben sind, mussten sie verlassen. Der durch fleißiges Arbeiten erworbene Besitz musste zurückgelassen werden. Sie mussten in ein für sie fremdes Land, mit den Sorgen, wo werden sie wohnen, was werden sie arbeiten und wie werden sie ernährt werden.“ Das waren die Gedanken der armen Menschen die voneinander Abschied nahmen und viele davon haben sich im Leben nie mehr wieder gesehen.

 

Wie die einzelnen Transporte von den Sprachinsler erlebt wurden, wissen wir nicht. Unser Bestreben ist es, so genau wie möglich zu schildern, wie wir es erlebt haben: es war der 2. Transport und davon wollen wir berichten. Am 16. Juni wurden wir und unsere Angehörigen mit einem Pferdegespann nach Wischau gefahren. Auf den Weg dahin sahen wir als letztes Zeichen unserer Heimat die Kirchturmspitze von Kutscherau, es war für uns sehr bewegend, wie dieser Kirchturm langsam hinter den sanften Hügeln von Kutscherau verschwand und plötzlich nicht mehr zu sehen war. Dass wir, 60 Jahre nach dieser schrecklichen Zeit, zusammen mit vielen deutschen und tschechischen Freunden alles tun, um diese Kirche vor dem Verfall zu retten, wer hätte das gedacht? Das Lager in Wischau war ein nicht fertiggestellter Bau aus der Protektoratszeit. Es sollte nach unseren Informationen das Deutsche Haus werden. In den letzten Monaten wurde es als Internierungslager genutzt, da das Schloss wieder für die Verwaltung gebraucht wurde. Das Gebäude war in der Nähe der Hanna und in den Kellern war überall knietiefes Grundwasser. Diese Keller zu sehen war für viele besonders bedrückend, denn man wusste, dass in diesen Kellern der Baron Manner aus Bochdalitz, im Winter 45 zu Tode gequält wurde. Er war der letzte seines Geschlechtes, war Junggeselle und hatte niemanden etwas getan. Wahrscheinlich musste er sterben, weil er ein adliger Deutscher war.

 

Im Lager konnten wir uns frei bewegen und auch in die Stadt gehen. In Erinnerung bleibt uns das Sonntagsessen, es gab Kutteln, in diesen Mengen gekocht stank das ganze Lager und die Umgebung penetrant nach diesem Essen. Es gab nach unseren Kenntnissen im Lager Wischau keine außergewöhnlichen Kontrollen oder Schikanen. Am 18.06. wurden wir mit Lastwagen von Wischau nach Brünn ins Lager Malomirschitz gebracht. In der Innenstadt sahen wir das erste Mal viele zerbombte Häuser von den von uns geschilderten Bombenangriffen auf die Stadt. Die Menschen in der Stadt reagierten teilnahmslos auf das Vorbeifahren ihrer ehemaligen Mitbürger. Untergebracht wurden wir in Holzbaracken, die üblichen Stockbetten mit sehr vielen Wanzen und Gemeinschaftsverpflegung. Kinder und Jugendliche wurden medizinisch untersucht. Die Ärztin sprach perfekt Deutsch, ob es eine Deutsche oder eine Tschechin war, können wir nicht sagen. Die gebildeten Tschechen sprachen ja in Brünn bekanntlich alle deutsch.

 

Der gesamte Lagerbereich wurde bewacht und man durfte sich nicht außerhalb bewegen. Das Gepäck wurde immer wieder untersucht und Wertsachen, sofern sie noch vorhanden waren, wurden konfisziert. Dabei haben sich wahrscheinlich viele privat bereichert. Am 24.06. wurden wir mit unserem Gepäck auf einen Güterbahnhof gebracht, es war nicht weit vom Lager. Es gab nochmals Kontrollen und den Familien wurde das ihnen zustehende Geld, 1.000 RM ausgehändigt.

 

Der Zug stand bereits auf den Schienen. Es sollten 30-35 Personen mit Gepäck in einem Waggon verladen werden. Den Güterwaggons sah man den Einsatz in den Kriegsjahren an, die Fensterluken waren zum Teil mit Stacheldraht versehen, ein Zeichen dafür, dass in den letzten Jahren damit viel viele Gefangene in allen Himmelsrichtungen transportiert wurden. Beim Verladen des Gepäckes, sowie dem Bestreben, die besten Plätze zu ergattern, war eine gewisse Spannung unter den Betroffenen unvermeidlich. Diese menschlichen Schwächen sind nun mal mehr oder weniger vorhanden. Für die Bedürfnisse wurde ein Kübel in die Mitte des Waggons gestellt, daneben ein Eimer mit Trinkwasser. Für die Würde des Menschen und einer minimalen Hygiene war kein Platz in dieser Enge.

 

Irgendwann gegen 21.00 Uhr wurden die Waggons geschlossen und der Zug fuhr in das Dunkle der Nacht. Uhren waren ja nach dem Durchzug der Roten Armee nicht mehr vorhanden. Wohin wir fuhren, wussten wir nicht, Trotz der Bedrückung und Enge im Waggon sind wir doch eingeschlafen. Als wir aufwachten, war eine große Unruhe im Waggon. Die Menschen mussten ihre Bedürfnisse im Klokübel nachkommen. Dieser war total überfüllt. Es gab eine heftige Diskussion, ob man den Kübel bei den Fensterluken ausschütten solle. Doch dafür waren die Öffnungen nicht groß genug. Es stank fürchterlich und die Stimmung wurde immer schlechter und bedrückender. Durch das schöne Wetter und die warmen Temperaturen wurde die Luft im Waggon immer unerträglicher. Wie lange das gedauert hat, können wir nicht mehr sagen. Es ist uns vorgekommen, als ob es Stunden gewesen sind. Irgendwann wurde dann doch die Waggontüren geöffnet. Die Erleichterung war groß, wir wurden zu einer Latrine geführt, von der einer Seite gingen die Frauen, von der anderen Seite die Männer. Die Kloeimer durften geleert werden, eine beschränkte Bewegungsfreiheit war erlaubt. Anschießend bekamen wir schwarzen Malzkaffee und etwas Brot. Man stellte fest, dass wir uns auf einen Güterbahnhof von Prag befinden. Nachdem wir den Kaffee bekommen haben und die Klokübel geleert waren, befahl man uns wieder in die Waggons zu gehen. Die Türen wurden geschlossen, es war unerträglich warm.

 

Sofort ist die Gerüchteküche angelaufen, der Zug steht im Norden von Prag und wir kommen alle nach Russland. Die Bewachungsmannschaft war nicht sehr kooperativ und ihr Verhalten war teilweise schikanös. Durch Verhandlungen konnte doch erreicht werden, dass die Waggons wieder geöffnet wurden und auch offen blieben. Am Nachmittag wurde uns eine Suppe mit Brot gegeben, das Schlimmste aber war der Durst. Trinkwasser gab es nicht, in Gesprächen mit dem Wachpersonal konnte dann doch Trinkwasser besorgt werden.


Gegen Abend wurden wir wieder in die Waggons gesperrt und der Zug fuhr dann los. Aufgrund des Sonnenstandes konnte man erkennen, daß es gegen Westen ging. Die Erleichterung war groß. Die Nacht verging wie schon bekannt. Im Waggon begann es wieder zu stinken und viele glaubten es werde wie in Prag ablaufen. Doch als der Zug hielt, wurden die Türen gleich geöffnet und man konnte die vorgesehenen Latrinen benutzen. Bei diesen Latrinen waren deutsche Kriegsgefangene eingesetzt, um sie zu reinigen und neue anzulegen. Es gab auch wieder Kaffee und Brot zum Essen. Dann kamen die Kontrollen durch tschechisches und amerikanisches Militär. Ob die Familien komplett und das vorgeschriebene Gepäck vorhanden ist, wurde gefragt. Einige Brünner, die dies nicht hatten, bekamen Militärdecken. Nach Stunden der Kontrollen mit ziemlich arroganten und abweisenden tschechischen Offizieren wurde der Zug zur Weiterfahrt freigegeben.

 

Der tschechische Grenzort hieß Taus. Die Waggontüren wurden nicht mehr zugemacht, das gab ein Gefühl von Freiheit und Luft. Von der Grenze haben wir nichts mitbekommen, aber plötzlich sahen wir überall auf der Wiese, unterhalb des Bahndammes, die weißen N-Binden liegen und wir wussten, nun sind wir in Deutschland. Bauern, die auf den Wiesen Heu machten, winkten uns zu, ein Gefühl der Erleichterung ging durch die Waggons, endlich in Deutschland, endlich in Freiheit. Es war ein wunderschöner Sommertag, als wir im nun offenen Waggon nach Deutschland hineinfuhren.

 

Wohin uns das Schicksal treiben wird, wussten wir nicht. Die Stimmung bei den Menschen war gut und voller Erwartung auf das was nun kommen wird. Nach ca. einer Stunde Fahrt kamen wir in einem großen Barackenlager an. An der Beschilderung stellten wir fest, der Ort heißt Furth im Wald. Die wenigsten von uns konnten damit etwas anfangen.

 

Alle mussten umgehend zur Entlausung in einen speziell eingerichteten Raum antreten. Es war ein großes Hallo, als uns ehemalige deutsche Kriegsgefangene in schwarz eingefärbten Uniformen im Auftrag amerikanischer Besatzungsmächte mit dem hochgiftigen DDT eingestäubt haben. Besonders die Frauen wurden von diesen jungen Männern mit einer zusätzlichen Portion bedacht. Nach dieser Prozedur, die von uns allen mit viel Humor hingenommen wurde, haben wir gemeinsam einen Eintopf zum Essen bekommen. Die vielen Säuglinge und Kleinstkinder mit ihren Müttern konnten erstmals seit Tagen mit Kindernahrung und frischen Windeln versorgt werden. Von den bürokratischen Aufnahmeformalitäten und der erforderlichen Organisation haben wir nichts mitbekommen.

 

Sehr bedrückend fanden wir auch die unzähligen Tafeln mit Bildern von vermissten und verschollenen Menschen. Das Bayerische Rote Kreuz hat überall diese Suchanzeigen aufgestellt. Auch viele Sprachinseler-Frauen haben mit Unterstützung des Roten Kreuzes sofort Angaben über ihre vermissten Männer und Söhne gemacht, in der Hoffnung von ihren Lieben etwas zu erfahren. Die Stadt selbst wurde nur von wenigen Jugendlichen und Kindern inspiziert. Man wusste ja nicht, wann es weiter geht. In Erinnerung an diese erste Station in Deutschland sind uns viele Baracken mit vielen Bahngleisen und der Anblick auf eine uns unbekannte schöne Stadt, die im herrlichen Sonnenschein friedlich vor uns lag.

 

Irgendwann am Nachmittag ging es wieder weiter, wohin wussten wir nicht. Die nächste Stadt, in der wir längere Zeit Aufenthalt hatten, war Schwandorf. Der Zug musste hier längere Zeit stehen bleiben, wahrscheinlich logistische Probleme. Von Nordwesten kam ein schweres Gewitter herein mit dunklen, bedrohlichen Wolken. Im Osten, da wo wir herkamen, waren die Ausläufer des Bayrischen Waldes noch im grellen Sonnenschein sehr deutlich zu sehen. Ein wunderschöner Regenbogen verband dieses Naturphänomen. Symbolisch wie eine Brücke, über die wir gehen müssen, zeigt es uns, der Osten, da wo wir herkamen, liegt im Licht, das kannten wir. Vor uns im Westen, da liegt das Dunkle, das wir nicht kannten und doch müssen wir über diese Brücke gehen, auch wenn man nicht wusste, was uns dahinter erwarten wird.

 

Anschließend ging es weiter, die Landschaft des Oberpfälzer Waldes zeigt sich uns in seiner ganzen Schönheit. In Cham, einem kleinen Städtchen, wurde wieder gehalten. Die Toiletten konnten nur mit einigen Schwierigkeiten besucht werden, denn es gab Probleme, die Anlagen waren für den Ansturm so vieler Menschen nicht ausgelegt.

 

Bei der Fahrt nach Nürnberg überquerten wir auch einmal die Reichsautobahn. Nur wenige Militärautos fuhren darauf und doch war es für uns besonderes Ereignis, denn wir waren ja noch alle von der Propaganda, die mit den Autobahnen gemacht wurde, sehr stark beeinflusst. Gegen Abend erreichten wir Nürnberg, eine Stadt deren Namen die meisten von uns kannten. Der Bahnhof war von den Bombardierungen beschädigt, aber nicht so stark, dass es beängstigend war. Vielleicht war er auch schon wieder notdürftig hergestellt. Voll Neugier gingen einige von uns dem Bahnhofsbereich heraus und wollten sich die Stadt ansehen. Das was man da zu sehen bekam war erschreckend. Die ganze Innenstadt ein einziger Trümmerhaufen, soweit das Auge sah nur Ruinen, der Anblick war für uns erschütternd und machte uns große Angst. So etwas hatten wir Sprachinsler ja noch nie gesehen.

 

Über diesen Ruinen zog sich auch noch das uns seit Schwandorf begleitende Gewitter mit seiner dunklen Wolkenwand unheilvoll und bedrohlich zusammen. Panik erfasste uns, die Neugier auf Nürnberg war wie weggeblasen, so schnell wie möglich zurück in die Waggons. Viele von uns haben wahrscheinlich erst da begriffen, was in diesem zerstörten Nachkriegsdeutschland auf uns zukommt. Ein starkes Gewitter entlud sich über der Stadt und in vielen Waggons wurden die Menschen nass. Nach dieser für uns Kinder und Jugendlichen sehr schockierenden Stadtbesichtigung, verkrochen wir uns auf den Schlafstellen, die schrecklichen Bilder im Kopf. Lange Zeit konnten wir nicht einschlafen, doch die Natur forderte ihr Recht, gepeinigt von diesen Bildern hatten wir eine sehr unruhige qualvolle Nacht verbracht.

 

Der Zug fuhr irgendwann ab und als wir erwachten, sahen wir das Ulmer Münster und wussten, wo wir sind. Der Bahnhof existierte nicht mehr, 2 Baracken hatten dessen Funktion übernommen. Es gab wieder schwarzen Kaffee mit Brot. Die Stadt haben wir nicht anschauen wollen, zu stark saß noch der Schock von Nürnberg in unseren Köpfen. Das Münster, das aus diesem Trümmerfeld in den Morgenhimmel ragte, war scheinbar unbeschädigt. Bei aller Neugier wagten wir es nicht, erneut eine zerbombte Stadt zu besichtigen. Nach langen warten, es wurde von überfüllten Aufnahmelagern gesprochen, ging es dann weiter in Richtung Norden. Bei schönem, sonnigen Wetter schauten wir auf eine karge Landschaft mit viel Wald. Gegen Mittag erreichten wir den Bahnhof Aalen. Dieser war zum Teil schwer zerbombt, die Zufahrt erfolgte über ein provisorisches Viadukt, es war der 27. Juni 1946. In einem ehemaligen Fremdarbeiterlager in Wasseralfingen wurde der ganze Transport von ca. 1.200 Menschen untergebracht Am 5. Juli 1946 wurden wir auf die verschiedenen Gemeinden im Altkreis Aalen verteilt.

 

Die Sprachinsler waren in ihrer neuen Heimat angekommen.

E N D E .

Die letzten Tage in Rosternitz unter dem Schutz der Dt. Wehrmacht 1945 (Anna Legner)

Die letzten Tage von Rosternitz unter dem Schutz der Deutschen Wehrmacht 1945

Am 2. März 1945 zog in unser Gasthaus in Rosternitz 49 die Hauptpost eines deutschen Regiments ein. Zu diesem Zeitpunkt machten sich in den Wäldern des Kreises Wischau schon tschechische Partisanen bemerkbar. Die Postautos, es waren Lastautos, die durch diese Wälder fuhren, wurden von den Partisanen beschossen.

 

Am 21. März wurde wieder einmal ein Postauto in den Wäldern bei Groß- und Kleinbukowin beschossen. Der Fahren und der Beifahrer waren an den Füßen verwundet. Um 10.00 Uhr kamen die beiden Verwundeten mit ihrem Auto bei uns an. Sie wurden sofort nach Wischau in ein Lazarett gebracht. Vier Wochen hatten wir die Regimentspost bei uns im Haus und wir verlebten mit den Soldaten eine schöne Zeit. Aber man sah und spürte, es geht dem Ende zu.

 

Zwei Soldaten von der Post unterhielten in unserem Garten gleich neben dem Eiskeller den ganzen Tag zwei Feuer. Ihre Aufgabe war es, die vollen Postsäcke zu entleeren und den Inhalt zu verbrennen. Es war Post, die für die Frontsoldaten bestimmt war. Beim Verbrennen der Briefe und Karten achteten die Soldaten genau darauf, dass alles gut verbrannte. Das ging gut zwei Wochen. Dann waren die Postsäcke leer. Wir fragten, warum sie die Post verbrennen. Die Antwort war, wir müssen es tun, damit der Feind nicht unsere Post in die Hände bekommt. Um diese Zeit machten wir im Garten einige Gruben, in die wir Hausrat, Kleider und Fett vergruben. Die Soldaten halfen uns dabei mit. Sie sagten uns immer wieder, solange wir hier sind, passiert euch nichts. Wenn wir aber abziehen, dann kommt mir uns, wir nehmen euch mit. Anfang April zog die Regimentspost weg. Zuvor kam noch der Spieß zu meinem Mann und mir und sagte zu uns: „Packt eure Sachen, was ihr notwendig braucht und fahrt mit uns mit. Wir haben genug Platz. Ihr wart die ganze Zeit sehr gut zu uns, wir wollen auch etwas für euch tun. Packt eure Sachen und kommt mit.“

 

Die Liebe zur Heimat aber war stärker und wir blieben in der Heimat. Die Soldaten sagten uns Lebewohl und winkten uns von ihren Autos zum Abschied noch zu. Unser Haus war nun von deutschen Soldaten leer. In dieser Zeit ging man jeden Tag in die Kirche zu Bittgebeten, früh und abends, aus Angst, vor der Ungewissheit und was werden wird, wenn die Russen kommen. Gerste, Hafer, Weizen, Mais, Kartoffeln und auch die Zuckerrüben waren schon angebaut, denn das Leben sollte weitergehen. Vom 21. bis 25. April mussten viele Dorfbewohner jeden Tag für das Militär schanzen gehen. Am 25. April wurde im Bahnhof Lultsch ein Munitionszug von russischen Fliegern mit Bomben belegt und beschossen und in die Luft gesprengt. Deutsche Flakgeschütze, die an der Kaiserstraße bei den Jesuitenhäusern aufgestellt waren, schossen ein russisches Flugzeug ab. Am selben Tag haben mein Mann und ich auch mit der Sämaschine am Milles Luzerneklee eingesät. Zwei russische Flieger überflogen uns einige Male. Beschossen haben sie uns aber nicht.

 

Am 27. April hatte Rosternitz im Laufe des Nachmittages drei Fliegerangriffe. Es waren 21 Brände. Fünf Dorfbewohner kamen bei den Angriffen ums Leben. Verletzte gab es auch. Von nun an waren die Einwohner über die Nacht in ihren Kellern. Am 28. April um 1.00 Uhr nachts waren noch etwa 30 deutsche Soldaten bei uns im Gasthaus. Ein Vorgesetzter gab ihnen die letzten Befehle. Um 2.00 Uhr ging ich hinaus vor unser Haustor. Da stand in unserem Vorgarten, an der Straßenecke zur Pfarrei, ein älterer Soldat mit einer Panzerfaust bewaffnet unter einem Rosenbäumchen versteckt. Er sollte auf russische Panzer schießen, wenn sie aus Richtung Kutscherau in unser Dorf hereinkamen. Im Dorf war alles so unheimlich still. Nur einige Hunde bellten. Ich fragte den Soldaten „Habe ihr nicht Angst mit dieser Panzerfaust?“ „Ich fürchte mich“, sagte der Soldat, „ich war noch nie im Einsatz“. Es war ein Tiroler und er hieß Bartel Kreuzer. Er übergab mir ein Paket, das ich seiner Frau schicken sollte. Dazu ist es aber nicht gekommen.

 

Eine halbe Stunde später ging ich wieder vors Haus, um zu schauen. Der Soldat war weg und die Panzerfaust stand in unserer Hofeinfahrt an der Wand. Von Russen war noch keine Spur. Um halb vier Uhr ging ich mit meinem Mann durch die Kegelbahn in den Garten. Im überdachten Teil der Kegelbahn saßen sechs deutsche Soldaten in voller Uniform, darunter auch der Tiroler aus unserem Vorgarten. Sie baten meinem Mann, wenn die Russen kommen und nach deutschen Soldaten suchen, er möge sagen, dass sechs Österreicher in Gefangenschaft wollen. So kam es dann auch. Am 29. April um halb fünf Uhr früh waren die ersten Russen in Rosternitz und die Österreicher gingen in Gefangenschaft.

 

(Hannes Legner - aus den Niederschriften seiner Mutter Anna Legner)

April 1945 - Russen in Kutscherau (Katharina Witzemann)

April 1945, Russen in Kutscherau

Am 27. April 1945 mußten die Kutscherauer Männer und Frauen Schützengräben ausheben und gingen auf unseren sogenannten Kirchenhügel in Richtung Bochdalitz. Es war schon irgendwie eine gedrückte Stimmung bei der Bevölkerung. Nach ungefähr zwei Stunden graben kam ein Reiter daher galoppiert. Es war ein deutscher Soldat, der rief: aufhören und alle heimgehen, der Russe ist nicht mehr weit weg. Im selben Moment kamen auch schon russische Tiefflieger. Alles hat nun geschrien und sich fallen lassen. Es ist aber Gott sei Dank alles gut ausgegangen. Aber der nächste Schreck kam gleich hinterher. Die ersten Granateneinschläge kamen vom Windberg her und zwei Stunden später waren auch schon die Russen in unserem Dorf. Wir waren so überrumpelt und sind nur noch alle in die Keller geflüchtet. Damit begann unsere Zeit des Leidens. Nach einer schrecklichen Nacht kam der nächste Tag.

 

Morgens um 9.00 Uhr kam von den Russen der Befehl und alle Bewohner mussten das Dorf verlassen. Das war ein beklemmendes Gefühl und Angst breitete sich aus, denn wir wussten ja nicht, was jetzt mit uns geschehen wird. So verbrachten wir den ganzen Tag auf freiem Feld und ich glaube, das war für uns alle der längste Tag in unserem Leben. In der Ungewissheit und der Angst, was nun geschehen wird, wurde gebetet und geweint und die Beklommenheit nahm immer mehr zu. Endlich, so gegen Abend, kam die Nachricht, dass wir wieder heim dürfen. Aber nach Hause, das war zu viel gesagt. Das Dorf war voller Russen und die Wohnhäuser, Stallungen und Scheunen waren mit Soldaten und Pferden belegt. An arbeiten im Haus oder auch in den Stallungen war nicht mehr zu denken, denn es war nicht mehr viel da. Die Ställe waren leer und man war froh, den Keller als Schlafstelle zu haben. Aber Ruhe fand man keine. Andauernd kamen Russen mit umgehängten Maschinenpistolen. Für uns Frauen war das die schwerste Zeit - und so ging das bei uns in Kutscherau drei Wochen lang.

 

Nachdem die Kampftruppen abgezogen waren, wurde eine Genesungstruppe einquartiert. Die Kirchgasse wurde abgesperrt und die Pfarrei und die Schule wurden als Lazarett eingerichtet. Eine Sauna und die schönsten Bauernstuben waren Offizierskasinos. Die Misthaufen haben die Russen mit Bäumen aus dem Wald abgedeckt. Sie sagten: „Germanski nix Kultura“. Jeden Tag mussten arbeitsfähige Frauen und Männer morgens am Platz vor dem Gemeindegasthaus antreten und so wurde jeder zur Arbeit eingeteilt. Wir verrichteten sie und wurden in Ruhe gelassen. Wir ahnten aber noch nicht, was uns noch bevorsteht.

 

Kaum waren die Russen abgezogen, kamen schon die ersten Tschechen ins Dorf und durften sich unsere Häuser aussuchen. Wir Deutschen mussten uns nun bei dem jetzt schon tschechischen Bürgermeister von Kutscherau melden und wurden in alle Himmelsrichtungen zum Arbeiten in tschechische Dörfer zu den Bauern verschickt. Da begann schon das Ende unserer schönen Heimat in der Wischauer Sprachinsel. Die Vertreibung fand dann im Jahre 1946 statt.

 

(Katharina Witzemann, Karlsruhe)

Schnell nach Hause (Martin Haschka)

Im Spätherbst 1944 wurden noch die letzten Burschen des Jahrgangs 1927 "einberufen". Meinen Stellungsbefehl zum RAD (Reichsarbeitsdienst) erhielt ich bereits im August 1944, wurde aber zwecks Einbringung der Ernte um drei Monate zurückgestellt. So kam es, daß wir zu zweit aus Hobitschau zum RAD nach Olmütz mussten. Wir waren ganz schön überrascht, als wir am Bahnhof in Wischau drei Lissowitzer - auch Jahrgang 1927 - trafen, die das gleiche Fahrtziel hatten.

 

In Olmütz angekommen, machten wir fünf Sprachinsler uns auf den Weg ins RAD-Lager, das etwas außerhalb der Stadt lag. Wir müssen versuchen, daß wir alle in einen "Trupp" kommen, sagten wir uns, was uns auch gelungen ist. Die Ausbildung hatte mit Arbeitsdienst kaum mehr was zu tun, sie war schon mehr als "vormilitärische Erziehung" zu bezeichnen. Wir nahmen das alles noch gelassen hin und hatten auch noch gelegentlich unsere "Hetz" dabei.

 

Im Jänner 1945 war die Ausbildungszeit vorbei und wir freuten uns auf ein paar Tage "Heimataufenthalt" bis zur nächsten Einberufung zur Wehrmacht. Ein letztes Mal mussten wir noch zum Morgenappell antreten und dann hieß es "Abtreten zur Heimfahrt". Am Bahnhof in Olmütz fragten wir gleich nach der nächsten Zugverbindung nach Wischau. Vor einigen Minuten ist der Zug abgefahren, der in Wischau hält, erfuhren wir bei der Auskunft, alle anderen fahren durch bis Brünn und der nächstpassende für uns geht erst am Spätnachmittag. So lange konnten wir nicht warten, denn wir wollten so schnell wie möglich heim. Auf einem Nebengleis stand ein langer Zug, die vordere Hälfte waren Waggons mit leicht verwundeten Soldaten, die hintere Hälfte des Zuges waren Viehwaggons mit Pferden der Wehrmacht. "Fahrt doch mit uns", sagten die Soldaten, wir fahren ja die gleiche Richtung. "Hält der Zug auch in Wischau", fragten wir, "aber natürlich", antworteten sie. In jedem Waggon waren zwei Landser als Tierbegleiter und die empfingen uns wie "Urlauber". Der Zug setzte sich in Bewegung, eine Wagentür blieb halb offen, es war sehr kalt.

 

Es lag viel Schnee, der leichte Ostwind sorgte dafür, daß sich leichte Schneewehen bildeten. Die Nächte waren sehr kalt, so daß die Sonnenstrahlen nur zaghaft den Bodennebel durchdringen konnten. Der Zug fuhr nicht schnell, so hatten wir viel Zeit, mit den Landsern über die Kriegsereignisse zu diskutieren, denn der Rückzug war ja an allen Fronten unverkennbar. Der Zug ist im Bahnhof Wischau eingefahren und wir verabschiedeten uns von unseren Begleitern. Den Koffer in der Hand warteten wir, bis endlich der Zug hält, aber er hält nicht, er beschleunigte das Tempo und fuhr weiter. Jetzt müssen wir doch bis Brünn fahren, denn wenn er in Wischau nicht gehalten hat, hält er in Lultsch schon gar nicht. Da wird es Abend, bis wir heim kommen, sagten wir uns, denn es ist ja bereits Nachmittag. "Wir springen ab", sagte jemand, "Ihr brecht euch die Knochen", sagten die Soldaten und je näher wir Lultsch vor uns sahen, so mehr reifte der Entschluss, abzuspringen. "Es wird nicht so schlimm werden", sagte einer, „der Schnee liegt verhältnismäßig hoch und das Trittbrett ist ja auch noch da". "Ich probiere es", sagte einer, „werft mir den Koffer nach“ und dann sprang einer nach dem anderen. Es war ein Bild zum Schreien, ein Mann, ein Koffer ... ein Mann, ein Koffer ... den letzten Koffer warf ein Soldat raus.


Jeder machte nach einigen Schritten eine Bauchlandung im Schnee, aber alle blieben unverletzt. Die Soldaten in den folgenden Wagons sahen, was sich da abspielte und haben herzlich gelacht. Mit viel Gelächter und glücklich über den gelungenen Absprung gingen wir querfeldein zur Straße Lultsch - Rosternitz. Der Schnee knirschte unter den Füßen, die Straße war zwar freigeschaufelt, doch der leichte Ostwind wehte sie wieder zu.

 

In Rosternitz verabschiedeten wir uns von unseren Kameraden aus Lissowitz und gingen heim nach Hobitschau. Kaum jemand wollte uns glauben, daß wir aus einem fahrenden Zug gesprungen sind und dabei unverletzt blieben. Aber das war eben noch alles in unserer Jugendzeit.

 

(Martin Haschka)

Meine Lebensreise von Rosternitz nach Leipzig (Maria Anspach)

Meine Lebensreise von Rosternitz nach Leizpig

Als Maria Kutscherauer erblickte ich als einziges Kind von Frau Rosina Kutscherauer am 5. Januar 1925 in Rosternitz Nummer 66 das Licht der Welt. Meine Mutter wohnte mit ihren Eltern Maria und Paul Kutscherauer im gleichen Haus. Sie bewirtschafteten gemeinsam bei harter Arbeit eine kleine Landwirtschaft. Aufgewachsen ist meine Mutter mit sieben Geschwistern - fünf Schwestern und zwei Brüdern. Als meine Großeltern immer älter wurden, halfen auch Onkel Martin Kutscherauer und seine Frau aus Rosternitz Nummer 14 bei uns mit. Als einziges Kind unter Erwachsenen verlebte ich, Maria, eine glückliche Kindheit auf dem kleinen Bauernhof. Ab dem 6. Lebensjahr besuchte ich die Volksschule in Rosternitz, Klassenlehrer war Herr Schudak. Ich erinnere mich deshalb so gut an ihn, weil er behindert war – er hatte nur einen Arm.  Außerdem unterrichtete auch noch das Ehepaar Palla an dieser Schule. Pallas wohnten in Swonowitz in einer grünen Villa; die Orte Rosternitz und Swonowitz waren nur durch einen kleinen Bach getrennt. Mir fiel das Lernen sehr leicht und so war es möglich, die Bürgerschule in Lissowitz zu besuchen. Der ca. drei Kilometer lange Weg musste bei jedem Wetter zurückgelegt werden, was nicht immer leicht war. Ich erinnere mich an Direktor Essler und Herrn Schmidt als Chemielehrer - und dass es für mich eine schöne Schulzeit war.

 

Während des Schulbesuches musste ich immer schon in meiner Freizeit in unserer kleinen Landwirtschaft, bestehend aus zwei Kühen, mitarbeiten. Schon früh verspürte ich den Wunsch, auf eigenen Beinen zu stehen und etwas Geld zu verdienen. Was bot sich da am besten an, als der nahegelegene Fliegerhorst in Wischau. Ich wurde auch prompt eingestellt und konnte von 1941 bis 1945 dort arbeiten. Meine ersten Tätigkeiten waren niedrige Küchenarbeiten wie Kartoffeln schälen oder Essen ausgeben. Ich scheute keine Arbeit, denn mir war wichtig, an Geld zu kommen. Den Fliegerhorst erreichte ich mit dem Bus Sychra, welcher täglich von Rosternitz nach Wischau fuhr.

 

Meine beiden Freundinnen Barbara Hross, Rosternitz Nr. 55 und Christine Springer waren ebenfalls am Fliegerhorst beschäftigt, was natürlich für uns Mädchen sehr erfreulich war.  Schon bald wurde ich ins Offizierskasino versetzt, um dort die Offiziere zu bedienen. Es war eine relativ angenehme Zeit für mich. Ich verdiente Geld, doch an die Höhe des Gehaltes kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war jedenfalls mehr als zufrieden, denn zuhause konnte man mir nie ein Entgelt für meine Arbeit zahlen. Mit dem Verdienst vom Fliegerhorst wollte ich unser Haus aufstocken, doch daraus wurde nichts mehr. Wir haben nach Kriegsende alles verloren, sogar auch das Geld meines leiblichen Vaters. Als ich in die Jahre kam, konnte ich nur ahnen, wer mein richtiger Vater war. Ich wagte nicht, danach zu fragen. Im Gedächtnis eingehängt hat sich bei mir eine besondere Begebenheit: Als ich nach Lissowitz zur Bürgerschule über Swonowitz, am Haus Legner Nr. 50 vorbei, ging, stand mein Vater auf der Wiese und dengelte die Sense. Unsere Blicke trafen sich kurz, ich ahnte und er wusste es, wer ich war! Erst mit 17 Jahren habe ich dann endgültig den Namen meines Vaters erfahren, denn über ein Leben ohne Trauschein wurde seinerzeit nicht gesprochen.

 

Meine Tracht legte ich für den Arbeitseinsatz am Fliegerhorst aus Gründen der Bequemlichkeit ab, doch in Rosternitz trug ich diese ganz selbstverständlich wieder. Die Bauernarbeit gehörte für mich zum Leben. Ich fuhr, wenn nötig, auch mit dem Kuhgespann auf die Felder, um Futter für die Kühe zu holen; ich liebte die Arbeit auf unserem kleinen Anwesen. In den Jahren 1939 bis 1943 hatte ich auch in meiner Freizeit oftmals einen privaten Einsatz beim Schullehrerehepaar Palla. Wenn diese am Wochenende mit der Tanzgruppe unterwegs waren, betreute ich Sohn Harald. Diese Beschäftigung fand ich sehr gut, denn Harald war ein außergewöhnlich liebes Kind.

 

Auf dem Fliegerhorst arbeitete ich bis zum Jahre 1945. Als das Ende für die Deutschen bereits abzusehen war, ging ich wieder nach Rosternitz zurück. Während die Flieger über das Dorf kreisten, versteckte sich die ganze Familie im Keller des Schulgebäudes, da das kleine Haus unserer Familie Kutscherauer nur einen Keller für Kartoffeln und Viehfutter hatte. Für alle Mädchen lauerte die männliche Gefahr an allen Ecken und so holte Frau Anna Legner, Wirtin des Gasthauses Legner „Slatka“ drei Mädchen, um diese auf ihrem Dachboden zu verstecken. Es waren mit mir noch die Schwestern Sofie und Greti Wikidal aus Rosternitz. Unter unserem Versteck gab es einen Raum, den die russischen Offiziere beschlagnahmt hatten. Wir lagen aus diesem Grunde die meiste Zeit zwischen den Brettern auf dem Boden und bewegten uns nicht viel. Frau Legner brachte uns über eine Leiter, die sie nur zum Essentransport anlegte, die Essensrationen nach oben. Danach kam die Leiter sofort wieder weg. Wir schauten durch die Ritzen nach unten und oftmals - wenn wir meinten, es ist nichts los - riefen wir nach Frau Legner. Wenn sie antwortete: „Die Luft ist nicht rein“ blieben wir in Ruhestation, wenn nicht, bewegten wir uns. Es war eine fast verzweifelte Situation, denn wenn uns die Russen aufgestöbert hätten, wären wir ihnen schutzlos ausgeliefert gewesen. Wir hatten Glück. Nach einer Woche ungefähr, als die Front bereits weg war zogen auch die Russen in die Schule um.

 

Erinnern kann ich mich noch an eine peinliche Situation. Nach dem langen „versteckt sein müssen“ hatte ich das große Bedürfnis, mich endlich wieder einmal zu waschen. Meine Mutter ging mit mir in Legners Hof und wollte mich dort auch schützen, doch ein plötzlich herbeieilender Russe nahm mich sofort in Beschlag und ging mir in die Schule. Ich musste dort für seine Kompanie Kartoffeln schälen und einfache Arbeiten verrichten. Während dieser Arbeit wurde ich gut behandelt. Täglich ging ich in mein Elternhaus zum Schlafen. Dabei lief ich immer durch die Gärten, weil es durch das Dorf zu gefährlich gewesen wäre - die Russen hätten dann eventuell sehen können, wo ich zu Hause war, und das wollte ich in jedem Falle vermeiden.

 

Eines Tages kam meine Mutter aufgeregt zu mir. Ein Russe hatte sie im Stall überrascht, als sie die Kühe gemolken hat. Sie war sehr erschrocken und reichte ihm den Eimer mit frischer Milch als Geschenk. Er lächelte, nahm das Geschenk und ging von dannen. Alle Mitglieder unserer Familie wurden zu tschechischen Bauern verteilt. Sie mussten alsbald schweren Herzens Abschied von ihrer geliebten heimatlichen Scholle nehmen.


Meine Mutter wurde hinter Wischau in ein tschechisches Dorf zur Arbeit abkommandiert. Sie wurde dort auch gleich eine Woche eingesperrt „weil sie Arbeit verweigerte“. Die Verweigerung wurde folgendem Satz zugeschrieben: „Ich habe noch meine alte Mutter, die kann ich nicht alleine lassen“. Ich konnte und wollte es nicht glauben, dass diese Aussage das Einsperren bewirkte und ging zum narodny vybor, um dort nochmals alles genau zu besprechen. Dadurch konnte ich bewirken, dass meine Mutter entlassen wurde; ein anderer Bauer nahm sie und meine Großmutter auf. Beide Frauen durften in einer Austragswohnung zusammen leben und wurden dort auch gut verpflegt. Sie hatten es genau so gut wie ich beim tschechischen Bauer Rischanek, welcher das Gehöft Rosternitz Nummer 7 bewirtschaftete. Ich arbeitete bei diesem Einsatz von Kriegsende 1945 bis zur Vertreibung 1946.

 

Unsere „Familie“ setzte sich in dieser Zeit wie folgt zusammen: Mutter, Großmutter, zwei Tanten aus Brünn und ich. Wir blieben im Dorf, bis auch die letzten Bewohner vertrieben wurden – das war der 8. Juli 1946. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich sehr traurig vor der Kirche unter den großen Bäumen saß und an eine ungewisse Zukunft für mich und meine Familie dachte. Was wird wohl kommen? Was wird mit uns geschehen? Wohin sollen wir jetzt gehen? Ich erbat kirchlichen Segen für diese ungewisse Zukunft. Ich erinnerte mich noch an die vielen schönen Erlebnisse, die Bräuche und das gute Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft und fragte mich: „Ist das jetzt alles zu Ende?? Meine Gedanken gingen zurück!

 

Der Weg ging – wie der vieler Sprachinsler – über das Lager Wischau nach Brünn-Malomirschitz - und von dort mit dem Viehwaggon Richtung Deutschland. Der Waggon hatte keine Fenster und wenn die Tür auch nur versucht wurde zu öffnen, richteten sich sofort die Gewehrkolben in diese Richtung. Wir trugen alle das „schwarze N“ und waren praktisch Gefangene im eigenen Land.

 

In Deutschland angekommen, bekamen wir sofort etwas zu essen und wurden entlaust. Wir kamen über Regensburg nach Mengkofen und von hier aus weiter in das kleine Dorf Thürnthenning. Hier wies uns der Bürgermeister bei der Familie Mittermeier ein acht Quadratmeter großes Zimmer zu. Darin standen ein Bett und eine Liege. Der Wohnraum war natürlich viel zu klein für uns und so bekamen wir bald von Frau Wintersberg ein Ausgedinghaus Nr. 49 zugewiesen. Wir wohnten hier zu dritt in der Wohnküche und einem Schlafzimmer. Bereits in Rosternitz lernte ich meinen Mann kennen. Er war als Soldat auf dem Fliegerhorst in Wischau stationiert und an Sonntagen, wenn die Soldaten Ausgang hatten, gingen die Männer oft in die deutsche Sprachinsel. Mein späterer Mann war dann auch einige Male bei uns, so dass ihn meine Mutter kennen lernen konnte. Im Herbst 1942 wurde er versetzt. Seine Familie wohnte in Leipzig, von der ich später auch seine Anschrift bekam, und wir schrieben uns.

 

In den Jahren 1947 und 1948 ging ich alleine nach Dingolfing, um dort eine passende Arbeit zu suchen. Es wurden mir zwei Stellen angeboten: eine als Bedienung und eine beim Schulrat Zintl als Haushaltshilfe. Die Stelle als Bedienung lehnte ich ab, denn ich wollte nichts mit Betrunkenen zu tun haben. Ich wählte die Stelle im Haushalt und hatte dort auch sehr viel zu tun, denn ich musste eine sechsköpfige Familie versorgen. Außer der vielen Arbeit ging es mir bei der Familie Zintl gut. Herr Laika, ebenfalls ein Sprachinsler, trat alsbald in mein Leben und machte es möglich, dass ich bei der Hutfabrik Hückel in Dingolfing arbeiten konnte. Ich blieb bei dieser Firma bis zum Jahre 1952. Als mein späterer Mann aus der Gefangenschaft entlassen wurde, besuchten wir uns so oft es ging gegenseitig und am 23. März 1952 kam die Verlobung. Im September 1952 zog ich dann von Thürnthenning nach Leipzig - meine Mutter blieb in Thürnthenning. Wir wollten auch sofort heiraten, aber eine Wohnung gab es erst nach der Eheschließung. Wir wohnten dann für kurze Zeit bei den Eltern meines zukünftigen Mannes. Meine Besuche in Thürnthenning bei meiner Mutter waren für mich immer sehr wichtig. Meine Hochzeit im November 1952 wurde für mich sehr traurig, weil die Teilnahme meiner Mutter versagt wurde; da erkannte man die Wirklichkeit, das wahre Gesicht der DDR (SED-Genossen).

 

1953 wurde unsere Tochter Monika geboren und im Jahre 1975 wurden wir zu unserer großen Freude auch noch Oma und Opa. Mein richtiger Vater gründete in Swonowitz eine Familie und lebte mit Frau und den drei Söhnen Matthias, Andreas und Hans bis zur Vertreibung ebenfalls dort. Die drei Männer sind meine Halbbrüder, mit denen ich in späteren Jahren immer Kontakt hatte, der bis heute nicht abgerissen ist. Beruflich war ich in einer Buchhandlung in Leipzig tätig, wo ich bis zum Eintritt ins Rentenalter als Sachbearbeiterin arbeitete. Mein Mann und ich konnten unsere Goldene Hochzeit im Kreis meiner Familie feiern und heute lebe ich – 85jährig - glücklich und zufrieden mit meinem Mann in Leipzig.

 

(Telefoninterview mit Maria Anspach im Januar / Februar 2010, Aufnahme und Bearbeitung: Rosina Reim)

 

Weitere Zeitzeugeninterviews von ehemaligen Bewohnern der Wischauer Sprachinsel finden Sie auf der Homepage der Sudetendeutschen Heimatpflege: